BSE-Krise im Jahr 2000: Die Rinderseuche erreicht Deutschland
Im Jahr 2000 beunruhigt eine besondere Seuche ganz Europa: die Rinderkrankheit BSE. Sie führt zu tödlichen Hirnschäden - und kann sich auf den Menschen übertragen. Der erste Fall wird in Schleswig-Holstein nachgewiesen.
23. November 2000: In einem Hamburger Labor werden an diesem Abend Rinderhirn-Proben untersucht. Nach Mitternacht, beim letzten von rund 260 Gewebestückchen, schlägt der Test an: positiv. Deutschland hat am 24. November vor 20 Jahren den ersten bestätigten Fall von Boviner spongiformer Enzephalopathie (BSE). Die Probe stammt von einem Rind aus Schleswig-Holstein, aus dem kleinen Dorf Hörsten am Nord-Ostsee-Kanal. Die Schlachterei, die das Tier verarbeiten sollte, hatte auf freiwilliger Basis Stichproben ins Labor geschickt. Der positive Befund schockiert den Landwirt: "Ich kann mir das nicht erklären", sagt er am nächsten Tag der herbeigeeilten Presse. Nichts hatte auf seinem Hof auf BSE hingewiesen. Alle knapp 170 Rinder seines Betriebes werden kurz darauf abgeholt und getötet. Denn keiner weiß, ob möglicherweise weitere Tiere mit der Seuche infiziert sind.
Rinderwahn-Krise treibt bayerische Landwirte auf die Barrikaden
Die Meldungen über weitere Fälle von Rinderwahnsinn (Mad Cow Disease) im Land überschlagen sich. Ein Verdacht in Sachsen-Anhalt stellt sich als Fehlalarm heraus, doch die Erleichterung der Landwirte hält nicht lange an: In den folgenden Wochen werden BSE-Fälle in ganz Deutschland gemeldet. Besonders Bayern ist betroffen. Hier formiert sich Widerstand. Mehr als tausend Bauern gehen auf die Straße, um den Abtransport von Rindern von einem Hof zu verhindern. "Unsere Kinder werden mittlerweile als BSE-Sau in der Schule beschimpft", erzählt eine verzweifelte Landwirtin einem Fernsehteam. Die Landwirte fühlen sich zu Unrecht angeprangert und geben der Politik die Schuld.
Die Spur führt nach England
Haben die Landwirte Recht? Welche Rolle spielt die Politik bei der Ausbreitung von BSE und wie kam die Seuche nach Deutschland? 1986 taucht sie bei einem Rind das erste Mal auf der britischen Insel auf. Vermutet wird, dass die schwammartige Hirnerkrankung möglicherweise durch verendete Schafe, die an der Schafkrankheit Scrapie gestorben waren, auf die Rinder übertragen wurde. Denn statt die Kadaver als Sondermüll zu entsorgen, nutzte die englische Futtermittelindustrie die toten Tiere als billigen Rohstoff. 1987 taucht in England ein erster Artikel "Rinderseuche und öffentliche Gesundheit" auf, der auf die Gefahr, dass Erreger auch auf den Menschen überspringen könnten, hinweist. Dem Mikrobiologen Steven Dealer, Verfasser des Artikels, werden daraufhin die Forschungsgelder entzogen. Dealer fordert eine Rindfleisch-Kontrolle, doch die Regierung in London ignoriert die Warnung. "Beef is safe" (Rindfleisch ist sicher) lautet die Devise.
Kurze Zeit später breitet sich die Tierseuche in England aus: 37.000 kranke Rinder werden getötet und auf den Feldern verbrannt. Schließlich wird die Praxis, Tiermehl aus Schlachtabfällen zu verfüttern, auf der britischen Insel verboten. Doch wohin mit den Resten? Tonnenweise wird das Mehl auf das europäische Festland transportiert. So wird die BSE-Seuche ins Ausland gebracht.
Von BSE zur menschlichen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit vCJK
In England tauchen in den Medien plötzlich Bilder von jungen Patienten auf, die an einer seltsamen Erkrankung des Gehirns leiden. Zehn Menschen sterben 1996. Hat BSE die Artengrenze übersprungen und den Menschen erreicht? Nach Jahren der Verharmlosung platzt im März 1996 die Bombe: Gesundheitsminister Steven Dorrel informiert das Londoner Unterhaus, dass eine Kommission zu dem Schluss gekommen ist, dass die Gehirnkrankheit bei den jungen Menschen wahrscheinlich durch Infektion mit BSE-Rindfleisch vor 1989 zustande gekommen ist.
Gedächtnislücken, Seh- und Gleichgewichtsstörungen sowie ein rapider Persönlichkeitsverfall bis zur völligen Demenz sind die typischen Symptome der Krankheit. Die Gehirnveränderungen der Opfer ähneln der bereits 1920 beschriebenen Creutzfeldt-Jakob-Krankheit. Harmlose Prione (Eiweiße) verwandeln sich in gefährliche Eiweiße. Während die ursprüngliche Creutzfeldt-Jakob-Krankheit wahrscheinlich vererbt oder durch zufällige Mutationen im Gehirn ausgelöst wird, gelangen bei der neuen Variante vCJK wahrscheinlich Erreger über verseuchte Rinderprodukte zunächst in den menschlichen Darmtrakt, von dort in das Blut und schließlich ins Rückenmark. Langsam, über Jahre hinweg, wandert die Infektion ins Gehirn. Dort treffen die Erreger auf gesunde menschliche Prionen, verändern deren chemische Struktur und wandeln sie in die krankhafte Form um. Dadurch entstehen winzig kleine Eiweißklümpchen. Sie lagern sich auf den Gehirnzellen ab und töten sie.
Importverbot für britische Rinder 1996
Der Fleischmarkt in Europa bricht daraufhin zusammen. Eine regelrechte Massenpanik bricht aus - allein in Deutschland verringert sich der Fleischkonsum schlagartig um 50 Prozent. Aufgeschreckt von den neuen Erkenntnissen beschließen die europäischen Minister 1996 ein Importverbot für britische Rinder. Doch bereits drei Jahre später wird dieses in Deutschland wieder aufgehoben. Auch sogenannte Risiko-Organe wie Hirn oder Rückenmark werden noch bis März 2001 in deutscher Wurst verarbeitet. Als im November 2000 der erste offizielle BSE-Fall in Deutschland bekannt wird, ordnet die Bundesregierung BSE-Tests an. Außerdem müssen Schlachthof und Zerlegeort des Fleisches vom Handel angegeben werden. Bis 2002 werden in Deutschland 400.000 Rinder geschlachtet und dann vernichtet. Die Kosten belaufen sich auf rund zwei Milliarden Mark. Zwei Minister stolpern in Deutschland über die BSE-Krise: Andrea Fischer (Grüne), Bundesministerin für Gesundheit, und Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Funke (SPD) nehmen 2001 ihren Hut.
Zuletzt 2014 zwei BSE-Fälle in Deutschland
Und heute? Es ist ruhig geworden um die Seuche. Experten vermuten, dass das Verbot von Tiermehl, Tests an Rindern und der Verzicht auf infektiöses Fleisch aus Gehirn und Rückenmark zu einem Rückgang von Neuerkrankungen geführt hat. Jedes Jahr werden Zehntausende geschlachtete oder verendete Rinder in Deutschland auf BSE getestet. 2014 sind dabei nach mehreren Jahren ohne Befund noch zwei BSE-Erkrankungen aufgedeckt worden, seitdem keine mehr.