Stand: 28.07.2009 14:31 Uhr

Aktion Kornblume: Zwangsumsiedlungen in der DDR

Am 3. Oktober 1961, um sechs Uhr früh, hämmert es plötzlich an ihrer Haustür. Die Familie Klatt liegt noch in den Betten. Aber nicht mehr lange: Mehrere Volkspolizisten und Mitarbeiter der Staatssicherheit stürmen herein, auf dem Hof stehen drei Lkws. "Fragen sind nicht erwünscht!", so lautet der erste Satz, den die Klatts zu hören bekommen. "Sie kommen in die sicheren Gebiete, wo sie sicher sind vor dem Westen", wird ihnen lediglich mitgeteilt. Das "sichere Gebiet", das sie künftig vor feindlichen Einflüssen der BRD schützen soll, liegt auf Rügen, Hunderte Kilometer von ihrer bisherigen Heimat Sülsdorf entfernt. Sülsdorf ist ein kleines Dorf in Nordwestmecklenburg im Grenzgebiet. Die deutsch-deutsche Grenze wird hier, wie überall in der DDR, seit dem Mauerbau im August 1961 noch stärker bewacht als bisher.

Landesweite Operation

Die Klatts sind nicht die einzigen, die am 3. Oktober 1961 umgesiedelt werden. Die landesweite Operation, die als "Aktion Kornblume" in die DDR-Geschichte eingeht, ist von langer Hand geplant. Tausende DDR-Bürger aus dem Grenzgebiet, die als "politisch unzuverlässig" eingestuft werden, trifft dasselbe Schicksal. Als rechtliche Grundlage dient dem DDR-Regime die Verordnung über die Aufenthaltsbeschränkung vom 24. August 1961, in der es heißt: "Die Aufenthaltsbeschränkung kann angeordnet werden, wenn die Fernhaltung der Person von bestimmten Orten und Gebieten im Interesse der Allgemeinheit oder eines Einzelnen geboten oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedroht ist." Die "Aktion Kornblume" hat einen bekannten Vorläufer: Unter dem Namen "Aktion Ungeziefer" fand im Juni 1952 bereits die erste große Vertreibungswelle statt. Im Zuge der beiden Aktionen werden in den ehemaligen DDR-Bezirken Rostock und Schwerin fast 1.000 Menschen entwurzelt.

Endstation Rügen

Am Nachmittag gegen fünf Uhr halten die Lkws in der Gemeinde Dreschwitz auf Rügen an: Endstation. "Meine Frau ist auf Filzpantoffeln da gelandet und mit Küchenschürze", erinnert sich Heinrich Klatt. In Dreschwitz wird seiner Familie eine winzige Wohnung als neue Bleibe zugeteilt. Auf einem volkseigenen Gut soll der Landwirt Heinrich Klatt als Feldbrigadier arbeiten. Sorgsam werden die Klatts in der Folgezeit von der Staatssicherheit überwacht, die beobachtet, ob und wie sie sich in der Fremde einleben.

Doch ihre Heimat bleibt Sülsdorf. Nach der Wiedervereinigung zieht es die Klatts wieder dorthin zurück. Jede Woche fragt Heinrich Klatt bei der zuständigen Kreisverwaltung an, wann und wie er seinen einstigen Besitz zurückerhalten kann, bis seine Bitte erhört wird: Anfang der 90er-Jahre erhält die Familie ihr Hab und Gut zurück. Heute leben die Klatts wieder in ihrem alten Haus. In der Einfahrt zu ihrer Hofanlage steht ein Feldstein, der die Aufschrift "Heimkehr 1991" trägt.

Zwangsumsiedlung in Lankow

Ein Junge sitzt auf einem weißen Pfosten zwischen einem Grenzpfahl mit dem Wappen der DDR und einem Schild mit der Aufschrift "Halt Zonengrenze". © picture-alliance / dpa Foto: Wilhelm Bertram
Die innerdeutsche Grenze wurde seit den 60er-Jahren immer unüberwindbarer.

Andere können nicht in ihre Heimat zurückkehren - viele mecklenburgische Grenzdörfer existieren heute nicht mehr, etwa das Dorf Lankow. Bis zum 3. Oktober 1961 lebt hier die Familie Schmidt. Auch sie muss an diesem Tag ihr Anwesen verlassen. Die Schmidts wohnen in einem großen Haus am östlichen Ufer des Lankower Sees, sie besitzen 62 Hektar Land, auf dem sie ihre Äcker bestellen und Vieh halten. Brigitte Schmidt stammt eigentlich nicht von hier, sie hat "zugeheiratet", wie man in dieser Gegend sagt. Im Januar 1945 flüchtete sie aus Westpreußen vor der heranrückenden Roten Armee. Der 3. Oktober 1961 ist für sie "die zweite Flucht gewesen, bloß nicht viereinhalb Wochen lang, sondern ein paar Stunden", sagt sie. An jenem Morgen rücken paramilitärische Kampftruppen und Stasi-Mitarbeiter bei Familie Schmidt an. Am Mittag werden sie in drei Lastwagen abtransportiert: im ersten Lkw der Großvater und der Sohn Hans, im zweiten Herr Schmidt und der Hund, im dritten seine Frau Brigitte mit den beiden Kleinkindern.

Von Einheimischen beargwöhnt

Sie landen in Diestelow, an der Mecklenburgischen Seenplatte. Die Unterkunft, die ihnen zugewiesen wird, ist in einem erbärmlichen Zustand. Hans Schmidt erzählt: "... drei Dachkammern, das war alles, da konnte man gar kein Ehebett aufstellen. Das kann man gar nicht erzählen! Die Möbel standen unten auf dem Flur, den konnten wir ja nicht abschließen, da wurden einige Sachen mit der Zeit geklaut." Brigitte Schmidt schreibt einen Brief an ihre Schwägerin: "Ihr werdet wohl erstaunt sein, wenn ihr unsere neue Anschrift lesen werdet, aber macht euch weiter keine Gedanken darüber, wir müssen unserm Schicksal entgegen gehen. Wir wurden ausgewiesen ... Wir waren nicht die Ersten aus unserm Dorf und werden wohl auch nicht die Letzten sein."

In Diestelow werden die Schmidts von den Einheimischen beargwöhnt. In seiner Klasse muss der Schüler Hans alleine sitzen. Er erinnert sich: "Da haben wir teilweise 30 Jahre mit leben müssen, bis zur Wende, dass viele gesagt und gedacht haben: 'Na irgendwas werdet ihr schon ausgefressen haben, sonst hätten sie euch hier nicht hergebracht!'"

Die Enteignung der Schmidts ist für das DDR-Regime kein Problem. Mit einem Handstreich erklärt sie den eingetragenen Besitz auf den Dokumenten für ungültig. "Damit wurde mein Schwiegervater nicht fertig, und mein Mann auch nicht", sagt Brigitte Schmidt. In das geräumige Anwesen ihrer Familie zieht eine Offiziersfamilie ein. Bei der Erweiterung der Grenzanlagen in den Siebzigerjahren wird das Haus schließlich gesprengt. 1976 ist das Dorf Lankow von der Landkarte verschwunden und gilt seither als Naturschutzgebiet.

Späte Anerkennung der Opfer

Nach der Wiedervereinigung gelingt es einigen der Vertriebenen, ihr einstiges Eigentum zurückzuerhalten. Zudem wird ihr schwieriges Schicksal endlich anerkannt. Am 17. Juni 1992 gibt der Deutsche Bundestag eine Ehrenerklärung für die Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft ab. Dabei werden besonders diejenigen erwähnt, die "unter Missachtung elementarer Grundsätze der Menschlichkeit aus ihrer Heimat, von Haus und Hof und aus ihren Wohnungen vertrieben wurden". Auch wenn der 3. Oktober heute als Tag der Deutschen Einheit für viele ein Tag der Freude ist - für die Betroffenen der "Aktion Kornblume" bleibt er zugleich rabenschwarz. "Ein Auge weint, ein Auge lacht", wenn er an dieses Datum denkt, sagt Heinrich Klatt.

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Aktion Kornblume - Originalversion

Die ungekürzte Fassung des Textes aus der Reihe "Erinnerungen für die Zukunft" von NDR 1 Radio MV. Download (92 KB)

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Radio MV | 04.10.2006 | 20:15 Uhr

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Die 60er-Jahre

DDR

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