Das Schweigen der Opfer
"Wie kann das passieren, Vati? Du hast doch von früher erzählt, aus der Nazi-Zeit - und als du ein Kind warst - und als ihr aus eurer Wohnung musstet - und wie kann das jetzt wieder passieren?", fragt die Tochter ihren Vater, Herbert Büchner, als die Familie im Oktober 1961 aus dem Grenzgebiet ins Landesinnere der DDR deportiert wird. Tatsächlich hat Herbert Büchner, 20 Jahre zuvor, schon einmal eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht.
Der Widerstandskämpfer Gustav Büchner
Ostpreußen, 1939: Als Mitglied der Bewegung "Kampf gegen den Faschismus" tritt Gustav Büchner unerschrocken den Nationalsozialisten entgegen. Trotz wiederholter Verhaftung durch die Gestapo ist der Familienvater weiterhin im Untergrund aktiv - bis er zum letzten Mal verhaftet und im April 1939 von den Nazis erschossen wird. Von offizieller Seite heißt es, der "Verbrecher" Gustav Büchner habe Selbstmord begangen. An diese Version glaubt auch sein 11-jähriger Sohn Herbert, denn aus Angst verschweigt die Mutter die Wahrheit. Mit ihren Kindern wird sie aus der eigenen Wohnung vertrieben, die Familie muss in ein schäbiges Zimmer umziehen. Erst viele Jahre später erfährt Herbert Büchner vom wirklichen Schicksal seines Vaters.
Heimat im Grenzgebiet
Heidhof bei Dömitz im Jahr 1961: Hier, an der Elbe, im Grenzgebiet der DDR, hat Herbert Büchner eine neue Heimat gefunden. Er und seine Frau Gretel arbeiten als Lehrer, sie haben drei Kinder und werden im Dorf geschätzt. Noch ahnen sie nicht, was hinter der scheinbar heilen Dorffassade vor sich geht: Akribisch erfasst die Staatssicherheit diejenigen Menschen, die aus dem Grenzgebiet in das Innere der DDR umgesiedelt werden sollen. Diese zweite große Vertreibungswelle - die erste fand 1952 statt - wird später als "Aktion Kornblume" bekannt. Umgesiedelt werden sollen vor allem "Personen, die durch ihre reaktionäre Einstellung den Aufbau des Sozialismus hindern sowie Personen, die ihrer Einstellung nach und durch ihre Handlungen eine Gefährdung für die Ordnung und Sicherheit im Grenzgebiet darstellen", wie es im Befehl des Ministeriums des Innern (MdI) heißt.
Zu diesen "Personen" zählen auch die Büchners. Sorgsam hat das Kreisgericht in Ludwigslust die Gründe für ihre Ausweisung zu einer handfesten Anklageschrift zusammengeschustert. Weil Herbert Büchner sich öffentlich gegen den Mauerbau geäußert, bei der letzten Kreiswahl nicht geflaggt und seine Fernsehantenne gen Westen ausgerichtet hat, wird er unter Ausschluss der Öffentlichkeit und bei eigener Abwesenheit angeklagt und ohne Verhandlung verurteilt.
Unerwarteter Besuch
Am 3. Oktober 1961 klingelt es bei den Büchners an der Haustür. Vor der Tür stehen drei Herren, zwei Lkws sowie bewaffnete Mitglieder der Kampftruppen. "Sie werden aufgefordert, das Grenzgebiet sofort zu verlassen!", sagt einer, der sich als Staatsanwalt vorstellt. Damit Herbert Büchner nicht gleich lautstark protestiert, wird ihm gesagt: "Sie kommen nach Crivitz, Ihnen wird dort eine gleichartige Wohnung zur Verfügung gestellt, und Sie können weiter als Lehrer tätig sein." Innerhalb von zwei Stunden muss die Familie ihr Hab und Gut zusammenpacken und auf die Lkws laden. Dann werden sie abtransportiert.
- Teil 1: Zwangsumsiedlung ins Landesinnere
- Teil 2: Vom Lehrer zum Genossenschaftsbauern