VIDEO: Arbeit für Menschen mit Behinderung in Flensburg und Kiel (4 Min)

60 Jahre Holländerhof: Erste "Beschützende Werkstätte" in Flensburg

Stand: 04.09.2024 00:00 Uhr

Jungen Menschen mit Behinderung einen Raum zum Lernen und Arbeiten geben - das ist das Ziel einer Elterninitiave in Flensburg. Heute vor 60 Jahren gründen sie am Nordermarkt eine "Beschützende Werkstätte" - eine der ersten in Schleswig-Holstein.

von Janine Kühl

Inklusion? Teilhabe? Davon ist die westdeutsche Gesellschaft in den ersten Jahren der jungen Bundesrepublik weit entfernt. Für Menschen mit Behinderung gibt es in der Nachkriegszeit kaum Strukturen. Nach den Erfahrungen der NS-Zeit, als Menschen mit Handicap laut den NS-Vorstellungen als lebensunwert galten, halten viele Familien ihre Kinder bewusst von der Öffentlichkeit fern. Viele Eltern seien froh gewesen, dass ihre Kinder durch die mörderische Nazizeit gekommen waren, erklärte einmal der ehemalige Leiter des Holländerhofs, Alfred Becker.

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Meistens betreuen Eltern ihre behinderten Kinder

Anfang der 1960er-Jahre entstehen bundesweit erste Initiativen, die jungen Menschen mit geistiger Behinderung Möglichkeiten des Arbeitens schaffen wollen. Denn im Allgemeinen gelten die Betroffenen als kaum beschulbar und arbeitsunfähig, werden vornehmlich zu Hause von den Eltern betreut. Spätestens nach dem Besuch der Sonderschule stellt sich die Frage: Und nun? Vorbild für neue Ansätze sind die Niederlande, die bei der Förderung von Menschen mit Behinderung Vorreiter sind.

Gründung einer "beschützenden Werkstatt" am Nordermarkt

Elfriede und Kurt Pahnke © Die Mürwiker GmbH
Elfriede und Kurt Pahnke gehörten zu den Gründern der ersten Beschützenden Werkstätte in Flensburg.

Auch das Flensburger Ehepaar Kurt und Elfriede Pahnke - Eltern einer Tochter mit Trisomie 21 - bringt von einer Reise in das westliche Nachbarland neue Ideen mit. Zusammen mit anderen Mitgliedern des jungen Vereins "Lebenshilfe für das behinderte Kind" und des Kirchenkreises Flensburg gründen sie am 4. September 1964 nahe des Flensburger Nordermarkts eine Beschützende Werkstätte - eine der ersten Werkstätten für Menschen mit Behinderung in Schleswig-Holstein.

Zwölf junge Menschen mit geistiger Behinderung üben ab Herbst 1964 einfache handwerkliche Tätigkeiten aus. Bald wächst die Gruppe, sodass die Räumlichkeiten in der Innenstadt nicht mehr ausreichen. Reichlich Platz findet die Beschützende Werkstätte Ende 1964 auf einem leer stehenden Bauernhof in Adelbylund am Stadtrand - dem Holländerhof. Erster Geschäftsführer der Einrichtung unter der Trägerschaft der Lebenshilfe Flensburg und des Kirchenkreises wird Kurt Pahnke.

Holländerhof - Ort zum Arbeiten und Lernen

Schwarz-weiß-Aufnahme von Menschen, die in einer Reihe stehen. © Holländerhof
Ab 1964 finden Menschen mit Behinderung in einer "Beschützenden Werkstätte" in Flensburg Arbeit und können an Bildungs- und Fördermaßnahmen teilnehmen.

Neben der Arbeit soll die Beschützende Werkstätte auch ein Ort sein, an dem die Menschen gefördert werden. Viele lernen hier Lesen und Schreiben, Sprachbehinderte erhalten Sprachheilunterricht - etwas, was im damaligen staatlichen Bildungssystem überhaupt nicht vorgesehen ist. Ein wichtiger Teil des Projekts während der Anfangszeit ist die Förderung des sozialen Miteinanders. Da die jungen Menschen oft nicht durchgängig einen Kindergarten oder eine Schule besuchen und wenig Umgang mit anderen Kindern gehabt haben, ist ihr Nachholbedarf in diesem Bereich groß. Gemeinsames Musizieren und Sport fördern das Miteinander.

Auftraggeber schätzen Verlässlichkeit des Holländerhofs

Erste Auftraggeber für die Werkstatt sind schnell gefunden. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten werden die Tätigkeiten professionalisiert, sodass der Holländerhof gleichbleibend qualitativ hochwertige Produkte abliefert. Das überzeugt viele Firmen davon, langfristige Partnerschaften einzugehen. Unterstützung erfährt der Holländerhof durch städtische Stellen, Landesbehörden sowie durch die damalige Aktion Sorgenkind (seit 2000: Aktion Mensch).

Streit über Kostenbeitrag: Gründung der Mürwiker Werkstätten

Menschen arbeiten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, dem Holländerhof in Flensburg. Aufnahme von 1975 © NDR / Screenshot
Dass Menschen mit Behinderung qualitativ hochwertige Arbeit leisten können, zeigen die Werkstätten des Holländerhofs ab den 1960er-Jahren.

1966 erheben die Träger die Forderung, dass Eltern ab einer bestimmten Einkommensgrenze einen Kostenbeitrag zum Holländerhof leisten sollen. Aus Prinzip lehnen Kurt und Elfriede Pahnke sowie weitere Eltern dies ab - was in der Kündigung der Betreuung ihrer Kinder zum 1. Mai 1966 resultiert. Daraufhin richtet das Ehepaar Pahnke in seinem Haus in Flensburg-Mürwik eine neue Werkstatt ein. Sechs Jahre später zieht die Gruppe in einen Neubau um und gründet die Mürwiker GmbH.

Holländerhof wächst

Unterdessen wächst der Holländerhof und nimmt immer mehr Menschen auf. In den frühen Jahren üben die Beschäftigten dort hauptsächlich Tätigkeiten mit dem Handbohrer aus, montieren Lampen für Quelle und Neckermann, falten Strumpfkartons oder stecken Thermostatschutzkappen für die dänische Firma Danfoss auf. Mitte der 70er-Jahre arbeiten bereits 40 Menschen mit Behinderung auf dem Holländerhof. Neue Gebäude entstehen auf dem fünf Hektar großen Grundstück. Auch das alte Bauernhaus der Familie Holländer muss einem Neubau weichen.

"Wurzeln und Freiheit": Geborgenheit und Arbeit

Der Holländerhof in Flensburg, eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Aufnahme von 1975 © NDR / Screenshot
Das alte Bauernhaus des Holländerhofs entspricht bald nicht mehr den Anforderungen der Einrichtung und muss in den 70er-Jahren einem Neubau Platz machen.

Von Beginn an ist der Holländerhof mehr als eine Werkstatt, in der bloß gearbeitet wird. Neben Bildungs- und anderen Fördermaßnahmen werden die Beschäftigten zunehmend auch in den Alltag mit einbezogen. So helfen sie in der Küche beim Essenkochen oder bei anderen anfallenden Arbeiten auf dem Hof. Ziel sei es, den Menschen neben der Arbeit ein Gefühl von Geborgenheit zu geben, wie die ehemalige Leiterin Maria Rönnau 2004 gegenüber dem "Flensburger Tageblatt" erklärte. Ein weiterer wichtiger Aspekt: die Beschäftigten zu befähigen, möglichst selbstständig zu leben. Nicht umsonst lautet das Motto "Wurzeln und Freiheit".

Jobs von Gravur über Gartenbau bis Elektromontage

Aus der einstigen Elterninitiative ist eine große Einrichtung mit unterschiedlichsten Arbeitsfeldern geworden. Heute sind 341 Menschen mit Einschränkungen in den Werkstätten des Holländerhofs tätig, der mittlerweile eine Einrichtung des Diakonie-Hilfswerks ist. Zu den Arbeitsfeldern zählen die Bereiche Gravur, Elektromontage, Metallverarbeitung, Gartenbau, Wäscherei oder Datenvernichtung. Für viele ist der Hof nicht nur Arbeitsstätte, sondern ihr Zuhause: 157 Menschen mit Behinderung leben hier, weitere 37 erhalten von Mitarbeitenden des Holländerhofs Assistenz im eigenen Wohnraum. Zudem gibt es zwei Tagesförderstätten. Für das vielfältige Angebot inklusive aller Verwaltungs- oder Hauswirtschaftsarbeiten im Hintergrund sind inzwischen 276 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Einsatz.

Fördermaßnahmen: Vom Fußballturnier bis zum Theaterprojekt

Regelmäßige Fördermaßnahmen wie Ergotherapie, Tanzunterricht, Lese- und Schreibkurse, Bildungsreisen oder Sportangebote gehören zum Angebot. Bei Sportveranstaltungen wie Läufen oder Fußballturnieren in der Umgebung sind stets auch Sportlerinnen und Sportler des Holländerhofs vertreten. Bei künstlerisch-kreativen Projekten wirken die Beschäftigten ebenso mit, etwa bei Malstunden, Foto- oder Theaterprojekten.

Ziel Wiedereingliederung: Kritik an Werkstätten

Eine Luftaufnahme von mehreren zusammenstehenden Gebäuden © Holländerhof
Diese Luftaufnahme zeigt den Holländerhof in Flensburg-Adelbylund. In der Einrichtung arbeiten heute rund 340 Menschen mit Behinderung.

Durch öffentliche Diskussionen geraten Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) zuletzt wiederholt unter Rechtfertigungszwang. Von Seiten der Wirtschaft wird kritisiert, dass die Werkstätten aufgrund geringer Löhne für die Beschäftigten den Wettbewerb verzerren. Andere meinen, dass mehr Menschen mit Behinderung selbstständiger werden und in Firmen und Betrieben arbeiten sollten. Schließlich sei ein Ziel der WfbM die Eingliederung in den freien Arbeitsmarkt - doch die niedrigen Beschäftigungsquoten von Menschen mit Behinderung zeigen, dass das nicht optimal funktioniert.

Mehr Begegnung für mehr Verständnis

"Die Menschen sind stolz auf das, was sie leisten", erklärt Solvejg Goldbach, Leiterin des Holländerhofs. "Wir haben oft den Eindruck, dass viele gar nicht wissen, was hier geleistet wird." Denn die Hilfestellung vor Ort geht weit über das Ermöglichen einer Tätigkeit hinaus. Goldbach wünscht sich, dass mehr Menschen einmal in der Einrichtung vorbeischauen würden. Denn dann, so die Erfahrung, würden viele ihre Meinung ändern.

"Wir müssen viel präsenter werden, im Stadtbild sichtbar sein und die Menschen einladen", räumt Solvejg Goldbach ein. Eine Möglichkeit dazu besteht am Nachmittag des 7. September, wenn auf dem Gelände das Jubiläum zum 60-jährigen Bestehen gefeiert wird.

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Dieses Thema im Programm:

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