"Freie Republik Wendland": Gelebte Utopie der Atomkraftgegner
Mit einem "Staat im Staat" protestieren Atomkraftgegner vor 40 Jahren gegen das geplante Atommüll-Endlager in Gorleben. Am 3. Mai 1980 errichten sie die "Freie Republik Wendland". Nach 33 Tagen wird Aktivisten-Treiben ein jähes Ende gesetzt.
"An die Bullen! Wenn Ihr hier mit Euren Wasserwerfern vorbeikommt, dann gießt gleich unsere Pflanzen ganz sacht und gleichmäßig. Und wehe, es ist Chemiescheiße im Wasser - pfui! Dies ist ein biologischer Garten." Was auf dem Eingangstor des sorgsam angelegten Gemüsegartens steht, ist in der "Freien Republik Wendland" Programm: Frech und fröhlich geht es hier zu. Die "Freie Republik Wendland", die der Anti-Atomkraft-Bewegung Anfang der 80er-Jahre neuen Aufwind gibt, ist eine gelebte Utopie, ein soziales Experiment, aber auch eine medienwirksame Protestaktion. Ganze 33 Tage hat die "Republik" bei Gorleben ab dem 3. Mai 1980 Bestand, bis die Bundesregierung sie am 4. Juni gewaltsam räumen lässt.
Anti-Atom-Proteste mit Trecker-Demos und Jauche
Protestaktionen gegen das geplante Atommüllendlager Gorleben im niedersächsischen Wendland finden bereits seit den 70er-Jahren statt. Am 22. Februar 1977 verkündet Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), dass in Gorleben ein atomares Endlager und eine Wiederaufbereitungsanlage entstehen sollen. Nur zwei Wochen später demonstrieren tausende Atomkraftgegner aus ganz Deutschland in Gorleben gegen die Pläne. Anwohner und Kritiker stellen sich mit ihren Protesten im Lauf der Jahre zunehmend breiter auf. Sie organisieren Sitzstreiks auf Straßen, die nach Gorleben führen, erklimmen Bäume, die für die Bohrstelle gerodet werden sollen und organisieren mit dem sogenannten Gorleben-Treck nach Hannover eine der größten Anti-Atom-Demonstrationen der Nachkriegsgeschichte. Anfang 1980 verteilen zornige Bauern Tausende Liter Jauche auf der Tiefbohrstelle 1004 - jenem Gelände in der Gemeinde Trebel bei Gorleben, unter dem sich der Salzstock befindet, den die Bundesregierung als atomares Endlager favorisiert.
3. Mai 1980: Gründung einer "Republik" für 33 Tage
Am 3. Mai 1980 erreicht der Protest im Wendland einen Höhepunkt: Mehrere Tausend Atomkraftgegner marschieren durch den Wald und besetzen das Gelände der Tiefbohrstelle 1004. Dort rufen sie einen eigenen Staat aus, die "Freie Republik Wendland" oder auch "Republik Freies Wendland" - so genau wird das hier nicht genommen. Das gewählte Stück Land sieht nicht gerade einladend aus: ein kahles, sandiges, gerodetes Waldstück, auf dem Bohrungen stattfinden sollen, um zu prüfen, ob der unterirdische Salzstock für ein Endlager geeignet ist.
Ein Baumstamm dient als Grenzübergang. Dort stellen die Atomkraftgegner und frisch gebackenen Dorfbewohner ein Warnschild auf, auf dem steht: "Halt, BRD. Vorsicht, Schusswaffen". Gegen eine Gebühr von 10 DM erhalten Einreisende einen "Wendenpass" mit Stempel. Mehrere Hundert Menschen leben von nun an tagtäglich auf dem Gelände. An den Wochenenden strömen Tausende Sympathisanten und schaulustige Touristen herbei. Unter den Besuchern ist auch der damalige Juso-Chef Gerhard Schröder, der sich gegen eine Räumung ausspricht.
Meditation, Sauna, Rock-Konzerte und ein eigener Radiosender
Aus Lehm und Holz errichten die Dorfbewohner ein provisorisches Dorf mit mehr als 100 Hütten, von aufwendigen Rundhäusern bis zu einfachen Indianerzelten. Gebaut werden auch ein Meditationshaus, eine Kirche, ein Freundschaftshaus, eine Sauna, Badehütten, Gewächshäuser, ein Klinikum, ein Frisiersalon, eine Mülldeponie, eine Ponyreitanlage für Touristen und eine acht Meter hohe Schiffsschaukel. Sogar ein eigener Radiosender wird aus dem Boden gestampft: "Radio Freies Wendland" sendet ab dem 18. Mai von einem Turm sein eigenes Programm. An den Abenden gibt es Vorträge, Diskussionsrunden, Rock-Konzerte oder Puppentheater. Die Dorfbewohner engagieren sich in verschiedenen Arbeitsgruppen, pflanzen Bäume, zimmern neue Gebäude oder kaufen Lebensmittel in den umliegenden Dörfern. Von Anwohnern aus der Region erhalten sie dabei rege Unterstützung und werden mit Bauholz und Lebensmitteln versorgt.
4. Juni 1980: Bulldozer und Panzer gegen den "Hochverrat"
Weniger begeistert reagieren die Bundesregierung unter SPD-Kanzler Helmut Schmidt und die niedersächsische Landesregierung. Als "Hochverrat" gegenüber dem eigenen Land geißelt der niedersächsische Innenminister Egbert Möcklinghoff (CDU) die Besetzung in einem Interview mit dem NDR. Tatsächlich haben die Bewohner der "Freien Republik Wendland" gegen zahlreiche geltende Gesetze verstoßen, unter anderem gegen das Bau-, das Seuchen- und das Meldegesetz.
Am 4. Juni 1980 wird dem bunten Treiben ein Ende gemacht: Im Morgengrauen, gegen 6 Uhr, umzingeln Tausende Polizisten und Bundesgrenzschutzbeamte die Tiefbohrstelle 1004 mit Bulldozern und Panzern. Die Angehörigen des Panzertrupps haben schwarz angemalte Gesichter. Hubschrauber kreisen am Himmel. Mit etwa 7.000 Mann ist dies der bislang größte Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte. Per Lautsprecher werden die Besatzer um 7 Uhr aufgefordert, den Platz zu verlassen.
"Denkt daran: Wir sind die Glücklichen!"
Auf dem Dorfplatz der "Republik" haben sich 2.000 Bewohner versammelt. Sie singen friedliche Lieder mit Titeln wie "Die Lebenslust ist unser Widerstand". Ein Akkordeonspieler spielt dazu auf dem Schifferklavier. "Bei allem, was jetzt passieren wird, denkt daran: Wir sind die Glücklichen! Wir haben hier gebaut und gepflanzt. Die Unglücklichen sind die, die jetzt in weißen Helmen, die jetzt mit Knüppeln gegen uns losgehen sollen", versuchen Aktivisten wie der NS-Widerstandskämpfer und Grünen-Mitbegründer Heinz Brandt den Mitstreitern Mut zu machen.
Ende einer Utopie mit Schlagstöcken
Mehrfach wiederholt die Polizei ihre Aufforderung, doch die Demonstranten rühren sich nicht. Um 11 Uhr beginnen Trupps von Polizisten und Grenzschutzbeamten, die Menschen vom Dorfplatz zu tragen. Obwohl die Sitzenden keinerlei Widerstand leisten, kommt es zum Einsatz von Schlagstöcken. "Turm und Tor könnt Ihr zerstören, aber nicht unsere Kraft, die es schuf", steht auf einem der letzten Hütten, bevor sie ein Bulldozer platt walzt. Gegen 20 Uhr ist die Räumungsaktion beendet. Der leere Dorfplatz ist mit Stacheldraht umzäunt. Die "Freie Republik Wendland" existiert nicht mehr. Doch das stimmt nicht ganz: In der Anti-Atomkraft-Bewegung wird der Geist der "Republik" auch in den kommenden Jahrzehnten weiterleben.