1964: Stapellauf der "Otto Hahn" in eine strahlende Zukunft
Politik und Wirtschaft feiern 1964 den Stapellauf des Frachters "Otto Hahn". Sein Nuklearantrieb gilt als Technologie der Zukunft und soll den zivilen Schiffbau revolutionieren. Doch die Euphorie verfliegt innerhalb weniger Jahre.
Dem Schiff, das am 13. Juni 1964 bei den Kieler Howaldtswerken vom Stapel läuft, soll die Zukunft gehören. Es ist das erste nuklear getriebene Forschungs- und Frachtschiff Europas. Kein Geringerer als der 85-jährige Nobelpreisträger Otto Hahn, der 1938 die Kernspaltung entdeckt hat, steht neben der Frau des Bundesforschungsministers Hans Lenz, als sie die Sektflasche gegen den Bug schmettert und das Schiff auf seinen Namen tauft.
Die bundesdeutsche Atomwirtschaft feiert den Stapellauf
Während der Rohbau der "Otto Hahn" die Helling hinunterrauscht, wird Hanna Lenz als Symbol des Glücks ein opulenter Strauß weißer Nelken überreicht. Dann taucht der Schiffsrumpf in das Wasser der Förde ein. Beim anschließenden Festessen der Politiker und Wirtschaftsleute im Restaurant Bellevue wird glacierter Mastkalbsrücken "Gärtnerin Art" mit Spargel serviert, danach Halbgefrorenes von frischen Erdbeeren.
Es ist ein großer Tag für die noch junge Atomwirtschaft. Kernenergie gilt damals noch als Technologie des Fortschritts. Weltweit herrscht eine "Atom-Euphorie", wird schon lange intensiv an Nuklearantrieben für Schiffe, Lokomotiven, Flugzeuge, Weltraumfahrzeuge gearbeitet. Doch in der Bundesrepublik erlauben die Siegermächte die Nutzung der Kernkraft erst 1955.
Ein nuklearer Schiffsantrieb statt Atombomben
Darauf haben die deutschen Kernphysiker jahrelang gewartet. Einige von ihnen waren in der Zeit des Nationalsozialismus an Forschungen für das Heereswaffenamt beteiligt. Zusammen mit Ingenieuren und Schiffbauern konzentrieren sie sich in der umgehend gegründeten GKSS, der maßgeblich vom Bund finanzierten "Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt" in Geesthacht, auf den Bau eines Frachters mit Nuklearantrieb.
Es ist erst das dritte zivile Atomschiff weltweit, nach dem sowjetischen Eisbrecher "Lenin" und dem US-amerikanischen Versuchsfrachter "Savannah". Atom-U-Boote gleiten hingegen schon seit einem Jahrzehnt in großer Zahl kaum hörbar und mit unbegrenzter Reichweite durch die Ozeane. Die "Otto Hahn" soll die Kernenergie als Antrieb in die Handelsschifffahrt einführen. Das Schiff ist 172 lang und fast 24 Meter breit, hat einen Tiefgang von 9,22 Meter und erreicht eine Geschwindigkeit von 17 Knoten. Das entspricht gut 31 Kilometer pro Stunde. In sechs großen Laderäumen kann es rund 14.000 Tonnen Ladung transportieren.
Der Reaktor wird mit Know-how aus den USA gebaut
Nach dem Stapellauf wird am Kieler Oslokai zwischen Brücke und Achterdeck der "Otto Hahn" ein nuklearer Druckwasserreaktor eingebaut wird. Er ist konstruiert von Interatom in Bensberg und gebaut von der deutschen Tochterfirma der amerikanischen Babcock & Wilcox. Er soll den Dampf erzeugen, der eine Turbine und damit das Schiff antreibt. In der Steuerungszentrale mit Schalttafeln und Instrumenten sieht es aus wie in einem Kernkraftwerk. Der Sicherheitsbehälter stammt von Krupp, Teile der Brennelemente aus Frankreich.
Die Politik fördert die Kernenergieforschung mit hohen Summen
Die Kosten des Schiffes sind auf mehr als 55 Millionen Mark veranschlagt, die Hälfte entfällt allein auf den Reaktor. Die Bundesregierung und die Bundesländer teilen sie sich mit der europäischen Atomgemeinschaft Euratom. Denn die wirtschaftliche Nutzung von Kernenergie ist in den 1960er-Jahren politisch gewollt und wird massiv gefördert. Stolz trägt die "Otto Hahn" das Atomzeichen am Schornstein.
Ein U-Boot-Kommandant der Kriegsmarine als Kapitän
Im Oktober 1968 sticht die "Otto Hahn" zu ihrer Jungfernfahrt in See. Das Kommando führt Heinrich Lehmann-Willenbrock, ein ehemaliger U-Boot-Kommandant und Vorbild für die Lothar-Günther Buchheims Roman "Das Boot". Die Schiffsingenieure sind speziell geschult worden, haben Atom-, Kern- und Reaktorphysik studiert, Ausbildungen in Reaktortechnik und Strahlenschutz erhalten, einige von ihnen sogar in den USA. Auch auf dem US-Atomfrachter "Savannah" sind sie bei An- und Ablegemanövern dabei.
Frachter, Forschungsschiff und Werbeträger
In den folgenden Jahren transportiert der Massengutfrachter vor allem Kohle, Erz, Getreide und Düngemittel. Im hinteren Aufbau führen Wissenschaftler Experimente durch, überprüfen den Reaktor bei Betrieb in schwerer See, erforschen Meerwasserentsalzung und Satellitennavigation.
Außerdem wirbt die "Otto Hahn" weltweit für die Nuklearenergie wie für die Leistungsfähigkeit der bundesdeutschen Industrie und Forschung. Ihre Reisen bringen der Kraftwerksindustrie zahlreiche lukrative Aufträge ein. Aufenthalte in fremden Häfen werden zu gesellschaftlichen Ereignissen, mit Ministerbesuchen, Empfängen und Vorführungen. Für die amerikanische Zeitschrift "Newsweek" ist die "Otto Hahn" der Beweis für die europäische Führungsrolle der Bundesrepublik in Sachen Kerntechnik. Weil sich der Antrieb als zuverlässig erweist, schmieden Politik und Werftindustrie bald Pläne für den Bau eines nuklearbetriebenen Containerschiffs.
Skepsis begleitet die Fahrten von Anfang an
Doch es gibt auch Vorbehalte gegen die Technik. Weil sie einen Atomunfall fürchten, erteilen nur wenige Länder der "Otto Hahn" die Genehmigung, ihre Häfen anzulaufen, fordern von der Bundesrepublik hohe Bürgschaften, bis zum 25-Fachen der üblichen Summe. In den elf Jahren ihres Betriebs besucht das Schiff nur 33 Häfen in 22 Ländern, zumeist in Afrika und Südamerika. In Europa erlauben nur Rotterdam, Southampton und Lissabon den Besuch. Dann muss der Atomfrachter am äußersten Hafenrand anlegen, so weit wie möglich entfernt von der Stadt. Suez- und Panamakanal bleiben ihm verschlossen.
Die "Otto Hahn" findet keine Nachahmer
1977 übernimmt zwar die Hapag für die GKSS Bereederung und Befrachtung der "Otto Hahn" und nutzt die Gelegenheit, um eigene Erfahrungen mit dem Nuklearantrieb zu sammeln. Doch keine weitere Reederei bestellt bei der GKSS ein Nuklearschiff. Denn neben den Vorbehalten gegen die Technik hat sich inzwischen gezeigt, dass der Einsatz des Schiffes wirtschaftlich nicht zu vertreten ist. Zu hoch waren die Baukosten, zu niedrig sind die Erträge durch die Frachtfahrten.
Das gesellschaftliche Klima wendet sich gegen die Kernkraft
Mit dem Aufkommen der Anti-Atomkraftbewegung Ende der 1970er-Jahre wird die Technik auch politisch immer umstrittener. 1979 legt die GKSS den Reaktor der "Otto Hahn" schließlich still. In elf Jahren hat das Schiff 125 Reisen absolviert und dabei 650.000 Seemeilen zurückgelegt. Die Kosten für Bau und Betrieb haben sich in dieser Zeit auf 200 Millionen Mark summiert, bei 73 Fahrten mit Ladung sind hingegen nur knapp 14 Millionen Mark eingenommen worden.
Die großen Zeitungen würdigen zwar noch die technische Zuverlässigkeit und die Leistung des Schiffes als Werbeträger. Aber es ist auch schon von der "Atomruine" die Rede, und es wird befürchtet, dass von dem Schiff, das nun im Hamburger Hafen liegt, eine Gefahr ausgeht.
Die Entsorgung kostet 48 Millionen Mark
Bis zum Sommer 1982 wird dort der Reaktor demontiert. 20 Container und 330 Fässer mit Hunderten Tonnen radioaktiver Teile werden nach Geesthacht transportiert und eingelagert. Mehrfach dekontaminieren Spezialisten Schiffsflächen und Einbauten. Bis zur Freigabe des Schiffes durch die Behörden führen sie mehr als eine Million Einzelmessungen durch. 48 Millionen Mark werden für die Entsorgung des kontaminierten Materials fällig. Die Kosten sind beim Bau nicht berücksichtigt worden, wie Hajo Neumann in seinem Buch "Vom Forschungsreaktor zum 'Atomschiff' Otto Hahn" (2009) schreibt.
Eine Bürgerinitiative protestiert gegen den Transport des Reaktors durch Geesthacht, die Polizei muss Schlagstöcke einsetzen. Auch in den folgenden Jahren kommt es immer wieder zu Demonstrationen gegen die strahlenden Reste des Atomfrachters.
Das Schiff fährt noch jahrelang
Die "Otto Hahn" wird für zwei Millionen Mark an die Hamburger Projex-Reederei verkauft und auf der Rickmers-Werft in Bremerhaven zum Containerschiff umgebaut. Mit einem Dieselantrieb ausgestattet fährt sie unter verschiedenen Namen und Flaggen vor allem in Asien, bis sie 2009 schließlich in Bangladesch verschrottet wird.
Die Reste der "Otto Hahn" strahlen weiter
Doch damit ist die Geschichte der "Otto Hahn" noch nicht zu Ende. Obwohl schon 1979 Brennelemente zur Wiederaufbereitung nach Karlsruhe gebracht und für 15 Millionen Mark aufbereitet worden sind, werden 2010 in den inzwischen stillgelegten Kerntechnischen Anlagen der GKSS in Geesthacht 52 Kernbrennstäbe entdeckt. Sie müssen zur Verladung in sogenannte Castor-Behälter in das französische Kernforschungszentrum Cadaradache gebracht werden, bevor sie im Zwischenlager Lubmin bei Greifswald eingelagert werden.
Der Reaktor selbst befindet sich noch immer abgeschirmt in einem Schacht unter der Erde auf dem ehemaligen Gelände der GKSS, des heutigen Helmholtz-Zentrums Hereon in Geesthacht. Er soll in den kommenden Jahren zerlegt und entsorgt werden.
Die "Otto Hahn" bleibt der einzige deutsche Massengutfrachter mit Nuklearantrieb. Von der "Atom-Euphorie" der Nachkriegszeit zeugt heute noch der Schornstein des Schiffes mit dem Atomsymbol. Er steht im Außengelände des Deutschen Schifffahrtsmuseums in Bremerhaven.