Herta Müller und Irina Scherbakowa über Russland
"Miteinander, nicht übereinander reden": Unter diesem Motto veranstaltet die Hamburger Körber-Stiftung zurzeit die Konferenz "Russland in Europa" mit zahlreichen Experten. Am Donnerstag diskutierten die Nobelpreisträgerin Herta Müller und die russische Autorin Irina Scherbakowa über ihre Erfahrungen in der sowjetischen Diktatur und den "langen Weg zur Freiheit". Ursprünglich sollte eine zweite Nobelpreisträgerin, nämlich die Weißrussin Swetlana Alejewitsch, auf dem Podium sitzen, die aber kurzfristig wegen einer Erkrankung abgesagte. Peter Helling hat für NDR Kultur die Diskussion beobachtet.
Hammersätze vom Podium
Es ist immer wieder erstaunlich, wie Herta Müller, diese zarte Frau, mit brüchiger Stimme ihre Argumente wählt, um irgendwann solche Hammersätze vom Podium zu schmettern: "Die Hauptproduktion des Sozialismus war die Produktion der Angst." Ist es Verzweiflung, ist es Wut? Dass hier zwei Frauen sitzen, die mit kühlem Sachverstand über Russland sprechen würden - damit war kaum zu rechnen. Es wird emotional. Kein Wunder, denn beide hatten direkt unter der Sowjetdiktatur zu leiden, die eine in Rumänien, die andere, die Autorin und Bürgerrechtlerin Irina Scherbakowa, in Russland.
Irina Scherbakowa sagt: "Die Sowjetunion ist so leicht zerfallen, es schien so ein Koloss zu sein, und ganz schnell ist es auseinander. Das konnte man sich alles nicht vorstellen." Die epochale Erschütterung dieses Zusammenbruchs klingt bis heute nach. Herta Müller skizziert die DNA der Diktatur mit Wortketten wie diesen: "Es entsteht die Angst, aber es entsteht auch die Habgier, es gibt die lange Angst und die kurze Angst, es gibt den Zufall, man kann nicht definieren, was Zufall ist, weil so viel inszeniert wird und so viel gelogen und geheuchelt in den Diktaturen, auch an Verbrechen, die der Staat begeht. Unter den Begriffen ist immer noch etwas anderes. "
Die Begriffe wurden also flüssig. Und man suchte Halt. Vor allem bei der Literatur. Die habe beiden geholfen, die Diktatur zu überstehen. "Durch die Literatur haben die Menschen erfahren, was es eigentlich war. Und was sehr wichtig ist, in diesen Jahren, auch in den Stalinschen Zeiten: Es wurde sehr viel übersetzt", so Scherbakowa.
Auch durch Irina Scherbakowa selbst. So hat sie schon in den frühen 80er-Jahren zwei Geschichten Herta Müllers ins Russische übertragen: "Das war so ein düsterer Bild, ich bin ja fast krank geworden an dieser Übersetzung, das war ein Alltag in Rumänien. Das war so fast nicht zu ertragen, dieser Druck der damaligen Situation." Wie ein roter Faden zieht sich das Gefühl der Angst, oder besser: dieser Lebenszustand durch die Diskussion.
Angst ist ein guter Literaturkritiker
Ein Gutes habe die Angst, unterstreicht Herta Müller fast bitter: "Die Angst ist ein guter Literaturkritiker, weil die anderen schwachen Texte, die halten nicht stand. Die Leute haben Gedichte aufgesagt statt zu beten."
Irina Scherbakowa wurde 1949 geboren. Mit großer Ruhe und fast bedächtig setzt sie sich für einen differenzierten Blick auf Russland ein. Das tut sie schon in ihrer alltäglichen Arbeit in der Organisation Memorial International, wo sie sich um eine korrekte Aufarbeitung der jüngeren russischen Geschichte bemüht. Sie leistet Sisyphusarbeit, vor der sich Herta Müller verneigt. Scherbakowa formuliert die entscheidende Frage: "Was ist es: der Staat für den Menschen oder der Mensch für den Staat? Das ist dieses ewige russische Dilemma und nicht nur das russische Dilemma." Vom gegenwärtigen Russland zeichnet sie ein düsteres Bild. Sie sagt: "Es ist kein Rechtstaat. Was jetzt in Russland passiert, ist nicht nur Aushöhlung, sondern auch Verhöhnung von dem, was europäische Werte sind."
Die Rolle der Millionäre
Irina Scherbakowa und Herta Müller sind sich einig, dass Russen und alle anderen Europäer Opfer einer großen Selbsttäuschung waren. Sie glaubten, nach dem Fall der Sowjetunion würde alles besser. Stattdessen: Für Scherbakowa wurde Russland zu einer Gesellschaft von Konsumenten. Und Herta Müller sieht einen weltweiten Trend: "Warum glaubt man an die reichen Männer? Warum glaubt man, dass diese Millionäre uns alle erlösen? Ich weiß es nicht. Die haben doch für sich alles getan, sonst wären sie nicht Millionäre. Warum glauben die Leute, dass sie die Armen alle mitnehmen? Und die Millionäre werden es schon für uns tun? Es ist doch schrecklich", sagt Müller.
Klarere Analyse der heutigen russischen Gegenwart fehlt
Ein Trend, der für osteuropäische Staaten wie Tschechien, aber natürlich auch für die USA gilt. Reichtum scheint wieder als Ausweis für kluges Staatslenken zu gelten. Ausgerechnet in Tschechien! Das Gespräch in der Moderation von Susanne Beyer, der stellvertretenden Chefredakteurin des "Spiegel", bietet die emotionale Bestandsaufnahme eines Schattens. Eines Überschattens, den dieses untote Monster, die Sowjetunion, bis in unsere Gegenwart wirft. Nur schade, dass diese Diskussion vor allem im Emotionalen bleibt. Eine klarere Analyse der russischen Gegenwart hat gefehlt. Etwa ein Blick auf die neue Religiosität in Putins Russland und anderen osteuropäischen Staaten.
Auch die Frage, wie sehr mit neuer Angst Politik gemacht werde, blieb unbeantwortet. Irina Scherbakowa formuliert ganz vorsichtig eine Vision am Schluss: "Ich glaube nach wie vor, dass es keinen anderen Weg für Russland gibt als der Weg zu einer Form der Demokratie, Gesetz und Demokratie."