Zwei Männer halten eine Zeitung. © NDR Foto: Jon Mendrala

"Ein Hauch von Geschichte" - der verspätete Mauerfall von Bleckede

Stand: 26.11.2024 12:23 Uhr

Am 9. November 1989 fiel die Mauer, und die deutsche Teilung war Geschichte. Überall? Nein! An der Elbe bei Bleckede dauerte es noch Wochen, bis es so weit war: Bis zum 26. November 1989 - heute vor 35 Jahren.

von Jon Mendrala

"Ich empfinde eine große Dankbarkeit, dass wir hier eine Grenze geöffnet haben - ohne, dass ein einziger Schuss gefallen ist", sagt Lutz Röding. Auch 35 Jahre nachdem sich hier im einstigen Sperrgebiet die Schlagbäume öffneten, bekommt er noch immer eine Gänsehaut, wenn er nur daran denkt. Damals, im Wendeherbst, war er Stadtdirektor der niedersächsischen Gemeinde Bleckede - am Westufer. Doch hier an der Elbe war die innerdeutsche Grenze: Wachtürme der NVA, Bunkeranlagen und meterhohe Zäune. Hier war 40 Jahre Sperrgebiet. Dementsprechend gab es auch gar keine Elbquerung - sei es eine Brücke oder Fähre - die man sofort hätte öffnen oder in Betrieb nehmen können. Hier war über die Jahrzehnte die Welt zu Ende. Das änderte sich erst am 26. November 1989.

Glühwein für die Grenzsoldaten

"Schon tags zuvor zeichnete sich etwas ab: Es lag etwas in der Luft", erinnert sich Röding. Doch den ganzen Tag kommt nichts richtig in Bewegung. Zusammen stiegen sie in Ruderboote und fuhren auf niedersächsischer Seite die Elbe flussauf und -ab. "Macht das Tor auf!", schallte es von den DDR-Bürgern auf das Westufer herüber, erzählt Röding. Aus einer Idee heraus hätten sie dann am Abend den NVA-Soldaten Glühwein ans andere Ufer gebracht. Der Bann war gebrochen.

Weiße Fahnen neben dem Wachturm

Zwei Hände halten ein Foto. © NDR Foto: Jon Mendrala
Auf dem ersten Boot, das die Elbe queren durfte, waren Lutz Röding und Karl-Heinz Hoppe mit an Bord.

Am Sonntag sammelten sich dann die Menschen am Zaun - sie warteten auf die erste Elbquerung seit der deutschen Teilung. "Gegenüber, neben dem alten Grenzturm, hatte der Landwirt ein weißes Bettlaken an seinem Bauernhaus gehisst", erzählt Röding. Ein erstes Boot durfte endlich die Elbe queren. Mit an Bord - natürlich Lutz Röding. "Wer da keine Tränen in den Augen hatte, hat den Moment nicht verstanden. Aber die meisten, die da waren, haben ja im Sperrgebiet gelebt - die wussten, dass das einmalig ist", sagt er.

Erste Elbquerung nach mehr als vier Jahrzehnten

Neben ihm ist heute - wie an diesem Tag vor 35 Jahren - Karl-Heinz Hoppe, Bleckedes Bürgermeister in Wendezeiten. Im Herbst 1989 überschlugen sich die Ereignisse. Bereits zuvor hatten sie gemeinsam versucht, den sogenannten kleinen Grenzverkehr auszuweiten und über die Verwaltung Kontakte ans ostelbische Ufer zu knüpfen: "Wir waren schon etwa zwei Jahre vorher mit einer Delegation drüben gewesen. Die haben sich gefreut, dass wir da so hinterher waren. Es gab ja auch hier viele Leute, die durch den kleinen Grenzverkehr regelmäßig Kontakte auf die andere Seite hatten."

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Neue Ufer und neue Zeiten

Beide haben die 80 Lebensjahre inzwischen schon überschritten. Es war ein ereignisreiches Leben: Flucht und Vertreibung aus Pommern nach dem Zweiten Weltkrieg, dann die neue Heimat in Niedersachsen. Und ein gemeinsames Verständnis für die Menschen auf der anderen Seite der Elbe, der anderen Seite der Mauer, der anderen Seite der Geschichte. Mit Neu-Bleckede auf dem anderen Elbufer rückte für die Stadt mit der Wiedervereinigung ein Teil der Gemeinde wieder näher. 1993 wurde auch das ostelbische Gebiet der Gemeinde Teil des Landkreises Lüneburg und damit ein Teil Niedersachsens. Ein historisch einmaliges Ereignis.

Vom "Zonenrandgebiet" in die Mitte Europas

Ein großes Glück, sagt deshalb heute Lüneburgs Landrat Jens Böther (CDU) - er selbst kennt die deutsch-deutsche Geschichte nur zu gut: aufgewachsen in der Elbmarsch, unweit der innerdeutschen Grenze, war er in den 1990ern selber Bürgermeister der einstigen Grenzstadt Bleckede: "Wir waren Zonenrandgebiet, wenn wir über die Elbe geschaut haben, gab es nur einen Zaun. Durch den Mauerfall und die Wiedervereinigung sind wir von der Randlage in die Mitte gerückt. Die Menschen hier in der Region sind im Austausch miteinander, Handwerker können auf beiden Seite der Elbe arbeiten. Und nicht zuletzt haben wir unser historisch hannöversches Gebiet nach mehr als 40 Jahren zurückbekommen. Jetzt fließt die Elbe durch unseren Landkreis und trennt ihn nicht mehr", sagt Lüneburgs Landrat.

Blick über die Elbe geht auch nach Mecklenburg-Vorpommern

Zwei Männer blicken auf ein Gewässer. © NDR Foto: Jon Mendrala
Lutz Röding und Karl-Heinz Hoppe erinnern sich am Ufer der Elbe an den 26. November 1989.

Über den Fluss kommt man jetzt im Zehn-Minuten-Takt mit der Elbfähre "Amt Neuhaus". An 365 Tagen im Jahr von 5 Uhr morgens bis 23 Uhr in der der Nacht. Beide Seiten der Stadt gehören mittlerweile zusammen, sagt deshalb der amtierende Bürgermeister Bleckedes, Dennis Neumann (parteilos). Das heiße aber nicht, dass es keine Unterschiede mehr gebe: "Natürlich ist es so, dass Dinge, die sich über Generationen entwickelt haben, auch nach 35 Jahren nicht einfach vorbei sind. Und ich finde es vollkommen okay, dass viele hier ihren Blick auch nach Mecklenburg-Vorpommern richten und dort viele persönliche oder berufliche Beziehungen haben. Aber letztlich ist jeder selbst dazu aufgerufen, seinen Teil zu leisten, damit wir weiter zusammenwachsen."

Vier Minuten Überfahrt im alten Sperrgebiet

Die Elbe liegt im Grau des Novembers, dann kommt ein kleiner Sonnenstrahl hervor. Ein "Hauch von Geschichte" habe sie im Herbst 1989 gestreift, sagt Lutz Röding, Bleckedes ehemaliger Stadtpräsident, und schmunzelt in die Herbstsonne. Dann legt wieder rumpelnd die Fähre an und bringt Menschen ans andere Ufer. An das Ufer, das jahrzehntelang unerreichbar schien.

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