Stadt, Land, Wandel: Vom Niedergang der Dörfer
Mit der Flurbereinigung ab Mitte der 50er-Jahre und dem Strukturwandel in der Landwirtschaft verschwanden kleine Höfe, Läden, Gaststätten - und die Jugend. Das Dorf galt zunehmend als rückständig. Hat das Landleben noch Zukunft?
Über Jahrhunderte war das Dorf Lebensmittelpunkt der meisten Menschen - der Ort, wo man schlief, aß, arbeitete und feierte. In den 1960er-Jahren änderte sich das massiv: Aus lebendigen Gemeinden wurden sogenannte Schlafdörfer. Menschen pendelten zum Arbeiten in die Städte oder zogen ganz fort, Läden und Gehöfte wurden verlassen. Was von den Bomben des Zweiten Weltkriegs verschont worden war, wurde platt gemacht, weil es in die damaligen Konzepte des moderne Lebens nicht mehr hineinpasste.
Flurbereinigung und Industrialisierung des Ackers
Die Industrialisierung hatte bereits im 19. Jahrhundert eingesetzt und verstärkte sich nun auch in den Dörfern: Mit Maschinen ist Arbeit schneller und billiger zu leisten, auch auf dem Acker. Und je größer das Feld, desto effizienter ist es zu bestellen. Rationalisierung ermöglicht Wachstum - deshalb galt es, den Boden neu zu organisieren. Im Osten sollte das im Zuge von Enteignung und Bodenreform geschehen, im Westen durch die Flurbereinigung, deren gesetzliche Grundlage am 1. Januar 1954 in Kraft getreten ist:
Zur Förderung der landwirtschaftlichen und forstwirtschaftlichen Erzeugung und der allgemeinen Landeskultur kann zersplitterter oder unwirtschaftlich geformter ländlicher Grundbesitz nach neuzeitlichen betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zusammengelegt, wirtschaftlich gestaltet und durch andere landeskulturelle Maßnahmen verbessert werden (Flurbereinigung). § 1 Flurbereinigungsgesetz (FlurbG) von 1953
"Wachse oder weiche!" - Kleinbauern geben auf
Was das hieß? Bis nach dem Krieg verfügten viele Bauern über kleine Flächen, die rund ums Dorf verstreut waren. Nun sollten die bunten Flickenteppiche aus versprengten Flurstückchen zu großen Flächen zusammengelegt werden - und das erregte Unmut. Einerseits mussten die Bauern einen erheblichen Teil selbst bezahlen. Dazu kam das Gefühl, gar nicht gefragt zu werden von den "hohen Tieren" in den Behörden.
In vielen Dörfern begann mit dem Flurbereinigungsgesetz ein jahrelanges Geschacher um die ertragreichsten Böden. Von der Zusammenlegung bis in die 1970er-Jahre profitierten meist die Bauern, die ohnehin viel Land besaßen. Viele Kleinbauern konnten sich teure Maschinen für die effektive Bewirtschaftung großer Flächen gar nicht leisten und gaben auf. "Wachse oder weiche!" - das galt kompromisslos im Strukturwandel der Landwirtschaft. Bis 1978 verschwanden in der Bundesrepublik so eine Million Kleinbetriebe.
Für die verbliebenen Bauern gab es wenig Risiko und wenig Marktwirtschaft, denn der Sektor wurde hoch subventioniert. Als Ergebnis produzierte die EG-Landwirtschaft die viel gescholtenen "Butterberge" und "Milchseen". In der DDR verwalteten LPGs - Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften - den sozialistischen Ackerbau.
Mit der Flurbereinigung kommt das Artensterben
Für die Natur war die Rationalisierung in der Landwirtschaft verheerend. Grüne Wallhecken und kleine Gehölze, sogenannte Knicks, hatten seit Jahrhunderten die Felder getrennt, boten Tier und Mensch Schatten und Schutz. Der Ruf "Jetzt komm mal langsam aus'm Knick" trieb Generationen zurück an die Arbeit, aufs Feld. Nun wurden die Sträucher für große Ackerflächen abgeholzt. Allein in Schleswig-Holstein verschwanden zwischen 1950 und 1980 mindestens 28.000 Kilometer Knicks - und damit auch zahlreiche Vogel- und Insektenarten, die ihren Lebensraum verloren hatten.
Entwässerung und Flussbegradigung: Tiefe Eingriffe ins Ökosystem
Allenthalben rückten Bagger an. Um den Boden besser nutzbar zu machen, wurden Entwässerungsgräben ausgehoben und Fließgewässer begradigt. Heute sind 63 Prozent aller Bäche und Flüsse in Deutschland teilkanalisiert, mit Sperren oder anderweitigen Eingriffen versehen. 2015 stellte das Umweltbundesamt in einer Untersuchung fest, nur noch sieben Prozent der Flüsse und Bäche seien in einem ökologisch guten Zustand oder hätten gutes Potenzial.
Die meisten Moore - im natürlichen Zustand wichtige CO2-Speicher - wurden trocken gelegt. In Mecklenburg-Vorpommern sind entwässerte Moore der größte Einzelverursacher von Treibhausgasen.
Die Denaturierung der Landschaft hatte damals ungeahnte Folgen. Grundwasserspiegel sanken, Fundamente brachten, Häuser sackten weg. Die Bodenerosion nahm zu: Bei starkem Regen wird die nährstoffreiche obere Bodenschicht fortgeschwemmt, bei Trockenheit und Wind entstehen Sandstürme.
Straßenbau statt Ackerbau
Die Motorisierung nahm rasant zu, ab Mitte der 1960er-Jahre waren Autos im Zuge des Wirtschaftswunders keine Luxusgüter mehr. Immer mehr Haushalte leisteten sich einen Pkw, und in den Aus- und Neubau von Straßen investierten Bund und Länder jedes Jahr mehr. Neue Bundesstraßen teilten die Dörfer, Bäume fielen zugunsten von Parkplätzen. Eingekauft und gearbeitet wurde zunehmend in der nächsten Stadt. Die Pendlerpauschale beschleunigte das.
Zeitgeist: Aus "traditionsreich" wird "altbacken"
Aus den Städten brachten die Pendler neben Geld auch neue Erfahrungen und Lebensvorstellungen mit ins Dorf. Die Ansprüche stiegen, man wollte sich etwas leisten. Traditionelles wirkte plötzlich altbacken. "Der bäuerliche Fachwerk-Plunder stört nur beim Herzeigen der Früchte eines neuen bürgerlichen Wohlstands", ätzte schon damals Umweltschützer und Publizist Horst Stern. Das Geringschätzen alter Bausubstanz entsprach dem Zeitgeist der 1960er und 1970er. Denkmalschützer interessierten sich für Burgen und Schlösser - nicht aber für den gewachsenen Dorfkern.
Abriss alter Dorfkerne - Neubau von Siedlungen
Eine gesichtslose "Maurerarchitektur" breitete sich aus, ersetzte Fachwerkhäuser und reetgedeckte Höfe. Wer mit der Zeit ging, zog in einen Bungalow oder bestellte sich ein Fertighaus. Fast jedes Dorf hatte in der Nachkriegszeit sein eigenes Neubaugebiet, auch weil Hunderttausende Geflüchtete und Vertriebene unterzubringen waren. Die Zugezogenen veränderten die gewachsene Gemeinschaft.
Die Dörfer bluten aus
Doch trotz Zuzugs: Das Alltagsleben verlagerte sich immer mehr in die Städte, in den Dörfern erloschen die Lichter. Tante-Emma-Läden machten dicht, sie konnten mit den Preisen der großen Supermärkte auf der grünen Wiese nicht konkurrieren. Da die Kunden abwanderten, fanden sich keine Nachfolger mehr für die Geschäfte. Das gleiche Schicksal traf Schuster und Uhrmacher, Bäckereien, Gasthäuser und kleine Brauereien. Die Steuereinnahmen sanken.
Gemeindereform: Zentralisierung von Verwaltung und Schule
Wie mit der Flurbereinigung, so wollte man auch mit der Gebietsreform Kosten und Arbeit sparen. Kleine Gemeinden sollten sich zu größeren vereinen - durch Verschmelzung oder die Bildung von Samtgemeinden. 16.000 Gemeinden verloren im Westen allein bis Ende der 1970er-Jahre ihre Eigenständigkeit, ehrenamtliche Ortsvorsteher verloren ihre Funktion.
Was die Bürger brauchten, sollten sie in zentralen Orten finden: Ämter, Bildung, Seelsorge. Vielerorts kam der Pastor nur noch alle drei Wochen. Dorfschulen wurden geschlossen, kleine Klassen und gemeinsamer Unterricht für mehrere Jahrgangsstufen galten als rückständig. Für die Kinder des Wirtschaftswunders und die Babyboomer entstanden Schulzentren aus Beton.
Landflucht der Jugend
Nach der Schule jedoch verließ die Jugend das Land. Zurück blieben die Alten. Mittlerweile leben bundesweit nur noch etwa fünf Prozent der Bevölkerung in kleinen Dörfern, Ende der 1960er waren es noch rund fünfmal so viele Menschen. Leerstand macht sich breit, Landstriche drohen zu veröden - etwa in Vorpommern oder im Harz. Doch wenn die Jugend geht, wer versorgt dann die Alten?
Renaissance des Landlebens durch das Internet?
In jüngster Zeit zeigt sich eine Trendwende. Partiell tut sich etwas, Ruhe und Natur werden wiederentdeckt, manche Dörfer blühen neu auf. Wie die Industrialisierung einst Arbeitskräfte in die Städte sog, so könnte die Digitalisierung zum Ausgangspunkt einer Gegenbewegung werden. Dorfläden und Kneipen entstehen neu, nicht selten gemeinschaftlich betrieben. Wo vorhanden, lockt schnelles Internet diejenigen, die die Enge der Stadt und die dortigen hohen Kosten satt haben - ein Trend, der mit der Corona-Krise und der Etablierung von Homeoffice-Arbeit wie auch durch die Explosion der innerstädtischen Mietkosten an Fahrt gewonnen hat. Junge Familien etwa reaktivieren alte Gehöfte und betreiben ökologischen Landbau.
Arbeiten, essen, schlafen und feiern auf dem Land: Für viele ist das zunehmend attraktiv, wenn die Basis-Infrastruktur stimmt. Das Dorf hat wieder Zukunft.