Zahl der Abschiebungen im Norden steigt
Nach der Messerattacke in Solingen plant die Bundesregierung verschärfte Regeln für Rückführungen abgelehnter Asylbewerber. Die Zahlen zeigen: Bereits seit einiger Zeit gibt es immer weniger Menschen im Norden ohne sichere Aufenthaltserlaubnis. Und die Zahl der Abschiebungen steigt - auch unter menschenunwürdigen Bedingungen.
November 2023, Flughafen Hamburg: Ein Ehepaar und die beiden Kinder, fünf und zehn Jahre alt, sollen nach Bergkarabach abgeschoben werden. "Im Laufe der Maßnahme weint die Frau immer wieder. Sie wirkt sehr verzweifelt. Plötzlich fällt sie auf den Boden. Von einem Arzt und dem Personen-Begleiter-Luft wird sie ins Arztzimmer gebracht. Als die Abschiebungsbeobachter*in später wieder auf die Frau trifft, zittert sie und wirkt abwesend. Die beiden Kinder wirken, seit die Mutter umgefallen ist, stark gestresst und weinen. (...) Schließlich wird die apathische Frau getrennt in einem Rollstuhl ins Flugzeug gebracht. Die Kinder suchen bei der Dolmetscherin Schutz." So beschreibt der Abschiebebeobachter der Diakonie die Situation einer Familie aus Niedersachsen vor dem Einsteigen ins Flugzeug.
Kritik an Abschiebungen
Fast täglich werden Menschen aus Norddeutschland abgeschoben, also in ein anderes Land gebracht. Dabei handelt es sich um abgelehnte Asylbewerber sowie um Ausländer, deren Arbeits- oder Touristenvisum abgelaufen ist. Im aktuellen Jahresbericht erzählen die Abschiebebeobachter am Hamburger Flughafen von Familientrennungen, von gefesselten Müttern, die ihre Kinder dadurch nicht betreuen können, von Zwangsmedikation und Abschiebungen psychisch und körperlich kranker Menschen.
"Bei Abschiebungen geht es nicht um höher, schneller, weiter. Es geht nicht darum, die Zahlen blind zu erhöhen, sondern man muss gucken: Wie kann das mit einem menschenwürdigen Mindestmaß passieren", sagt Lukas Fuchs, Migrationsforscher am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM).
Mehr Abschiebungen aus Norddeutschland
Bereits 2023 wurden aus Norddeutschland mehr Menschen als im Vorjahr abgeschoben. Aktuelle Zahlen der Innenbehörden legen nahe, dass es 2024 erneut deutlich mehr Abschiebungen geben dürfte. In Mecklenburg-Vorpommern wurden im ersten halben Jahr bereits 227 Personen aus dem Land gebracht - mehr als im gesamten Vorjahr. Und auch in Hamburg und Schleswig-Holstein wurden besonders viele Personen abgeschoben: Hier wurden bis Ende Juli mindestens 75 Prozent der Abschiebungen des gesamten letzten Jahres erreicht. In Niedersachsen steigen die Zahlen vermutlich ebenfalls, mit 771 abgeschobenen Personen bislang nur weniger stark. Damit nähern sich die Abschiebezahlen wieder denen vor der Coronazeit. Zudem reisten in allen Bundesländern mehr Geflüchtete freiwillig aus als abgeschoben wurden.
Kooperation mit Herkunftsländern entscheidend
Wieso immer mehr Ausländer abgeschoben werden, hänge an verschiedenen Aspekten, antwortet Marie Boywitt, Pressesprecherin der Innenbehörde in Schwerin. "Es gibt keine Nachwirkungen von Corona mehr. Zudem gab es gesetzliche Erleichterungen", nennt sie mögliche Gründe. Anfang des Jahres waren neue Regeln in Kraft getreten, die Abschiebungen erleichtern sollen.
"Durch die Verschärfungen sehe ich wenig Effizienz. Sie macht zunächst vor allem das Leben für die abzuschiebenden Personen schlechter", widerspricht Migrationsforscher Fuchs. "Eine entscheidende Rolle für mehr Abschiebungen spielt es, in welche Länder abgeschoben wird, wie gut die Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern ist und wie hoch deren Rücknahmebereitschaft ist." So wurden Moldau und Georgien kürzlich als sichere Herkunftsstaaten eingestuft -- mit Georgien auch ein Migrationsabkommen unterzeichnet.
Abschiebungen von Straftätern: Menschenwürde nicht gesichert
Wo die politischen und rechtlichen Verschärfungen wohl einen Effekt zeigten, sei bei der Rückführung von Straftätern, wie man an der Abschiebung von Männern in das von den extremistischen Taliban geführte Afghanistan sieht, erklärt Fuchs. "Man sieht eine Aufweichung von politischen Standards, jetzt mit Despoten zu verhandeln. Und in Länder abzuschieben, in denen die Menschenwürde nicht gesichert ist. Das ist eigentlich ein rotes Tuch gewesen - auch für Straftäter."
Diese Fokussierung unterstreicht auch die Hamburger Innenbehörde. "Insbesondere die erfolgreiche Rückführung von Straftätern hat für Hamburg hohe Priorität." Nicht nur aus der Strafhaft schiebt Hamburg ab, auch die Abschiebehaftanstalt in Glückstadt, in der Männer zum Teil zwei Monate lang eingesperrt wurden, nutzt die Hansestadt stark.
Zielländer: Balkan, Türkei, Georgien, Moldau, Algerien, Irak
Aus Hamburg wurden in den vergangenen drei Monaten vor allem Menschen aus Nordmazedonien, Serbien und der Türkei in ihr Heimatland zurückgebracht. Schleswig-Holstein flog Ausländer vor allem in die Türkei, Algerien und den Irak. Aus Mecklenburg-Vorpommern wurden dieses Jahr besonders oft Menschen auf den Balkan gebracht - nach Serbien, Nordmazedonien und Albanien; aus Niedersachsen auch nach Albanien, Georgien und Moldau. Die meisten Geflüchteten im Norden kommen jedoch aus der Ukraine, Syrien und Afghanistan.
Abschiebungen innerhalb der EU gelingen seltener
Auf jede erfolgte Abschiebung kommt im Norden ein abgebrochener Versuch. Nur in Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern wurden dieses Jahr mehr geplante Rückführungen umgesetzt als scheiterten. In Niedersachsen zeigt sich jedoch: Abschiebungen in Länder außerhalb der EU gelingen deutlich öfter als sogenannte Dublin-Überstellungen innerhalb der EU. Die Zahl der gescheiterten Versuche ist annähernd gleich groß, aber es werden mehr als dreimal so viele Geflüchtete in Länder außerhalb der EU abgeschoben.
Wieso scheitern Abschiebungen?
Dublin-Überstellungen sind Abschiebungen innerhalb der EU, eine solche hätte auch den Tatverdächtigen von Solingen treffen sollen. Eigentlich ist das EU-Land, in dem Schutzsuchende zuerst registriert wurden, für die Asylverfahren zuständig. Wenn Geflüchtete aber beispielsweise aus Spanien nach Deutschland weiterreisen, darf Deutschland sie nach Spanien zurückbringen. Dies gilt jedoch nur im ersten halben Jahr und oft macht das zuständige EU-Land schwierige Vorgaben. Oder es nimmt, wie etwa Italien, gar keine Schutzsuchenden über das Dublin-Verfahren aus Deutschland auf.
Ein ähnliches Problem verhindert auch Abschiebungen in viele nicht-EU-Länder: Diese wollen ihre Bürger teils gar nicht mehr aufnehmen. Sind Abschiebungen bereits konkret geplant, würden die Ausländer dann oft nicht angetroffen - so die Innenministerien in Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern. Zudem können Krankheiten, fehlende Familienmitglieder oder die Weigerung der Piloten, die Menschen mitzunehmen, dazu führen, dass Maßnahmen abgebrochen werden.
Im Norden leben weniger ausreisepflichtige Ausländer
Derzeit leben allein in Niedersachsen 4.000 ausreisepflichtige abgelehnte Asylbewerber weniger als im Vorjahr. Auch in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein zusammen wohnen etwa 4.000 ausreisepflichtige Ausländer weniger. Mehr Abschiebungen sind ein Grund dafür. "Der allergrößte Grund dafür ist aber das Chancenaufenthaltsgesetz", erklärt Migrationsforscher Fuchs. Dies hat bundesweit mehr als 50.0000 langjährig Geduldeten seit vergangenem Jahr eine Aufenthaltserlaubnis ermöglicht, da sie ihren Lebensunterhalt selbst sichern.