Warum radikalisieren Menschen sich - und was wird dagegen getan?
Seit dem tödlichen Anschlag von Solingen wird in Deutschland wieder vermehrt über die Migrationspolitik und Waffengesetze debattiert. Aber auch die Präventionsarbeit ist in den Fokus gerückt und damit die Frage: Warum radikalisieren Menschen sich und wird genug gegen Extremismus getan?
Beim Fest zum 650. Solinger Stadtjubiläum hatte ein Attentäter am 23. August mit einem Messer drei Menschen getötet und acht verletzt. Mutmaßlicher Täter ist der inhaftierte 26-jährige Syrer Issa Al H., der Mitglied der islamistischen Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) sein soll. Wie er sich radikalisiert hat, ist noch unbekannt.
Die Zahl der Extremisten in Deutschland ist in den letzten Jahren laut Verfassungsschutz gestiegen. In ihrem aktuellen Bericht geht die Behörde von knapp 42.000 Personen in der rechtsextremen Szene aus. Diese verüben mit Abstand die meisten Straftaten. Der linksextremen Szene werden 39.000 Menschen zugeordnet. 27.000 Menschen werden dem islamistischen Extremismus zugerechnet, also dem religiös begründeten Extremismus, zu dem auch der IS zählt.
NDR Info hat zum Thema Radikalisierung mit Rüdiger José Hamm und Charlotte Leikert von der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus e.V. (BAG RelEX) gesprochen.
Wie läuft eine Radikalisierung ab?
Rüdiger José Hamm: Radikalisierung ist kein linearer Prozess, sondern läuft in Stufen ab - ein Ausstieg ist dabei immer möglich. Es gibt viele Faktoren, die eine Radikalisierung begünstigen, wie etwa die Suche nach der Identität in der Jugendphase oder die Suche nach Zugehörigkeit. Sie können den Boden bereiten, sich für Menschen mit alternativen Ideen und Zugehörigkeiten zu öffnen, die sehr wenig mit Menschenrechten und Demokratie zu tun haben.
Welche Aspekte befördern eine Radikalisierung?
Charlotte Leikert: In der Forschung wird zwischen sogenannten Push- und Pull-Faktoren unterschieden. Push-Faktoren sind die Punkte, die eine Person anfälliger für extremistische Ansprachen machen. Die sie zum Beispiel aufgrund ihrer Biografie vulnerabel machen, so wie Misserfolge, der Tod von engen Angehörigen, Diskriminierungs- oder Rassismuserfahrungen oder auch die Suche nach Sinn und Zugehörigkeit. Wenn ich erlebe oder es so wahrnehme, dass ich in der Gesellschaft ausgegrenzt bin oder ausgegrenzt werde, dann kann mich das für Ansprachen einer extremistischen Gruppe empfänglich machen.
Als Pull-Faktor gilt das, was extremistische Gruppen anbieten. Islamisten versuchen auch ganz gezielt, junge Menschen anzusprechen. Dabei werden unter anderem Ungerechtigkeiten auf der Welt aufgegriffen. Diese sollen laut der Erzählungen der extremistischen Gruppen bekämpft werden, dabei kann Diskriminierung und Rassismus eine große Rolle spielen. An junge Menschen wird das Narrativ herangetragen: "Ihr seid in der Gesellschaft nicht gewollt, kommt zu uns. Hier seid ihr gewollt, hier könnt ihr einfach so sein, wie ihr wollt."
Woran erkennt man Radikalisierung und wie spricht man eine Person an, wenn man den Verdacht hat, dass sich die Person extremen Ansichten hinwendet?
Hamm: Es ist nicht immer offensichtlich, wenn Menschen sich auf den Weg machen, sich zu radikalisieren. Anzeichen können sein, dass das soziale Umfeld eine Veränderung im Denken, Sprechen und Handeln feststellt. Wenn auf einmal Dinge nur noch religiös begründet werden, wenn es ein Schwarz-Weiß-Denken gibt. Wenn Diskussionen und Argumentationen sehr verhärtet und polarisierend geführt werden. Nur weil es Anzeichen gibt, kann man aber nicht gleich von einer Radikalisierung sprechen. Auffällig ist es auch, wenn sich ein Mensch in entsprechenden Kreisen bewegt, also Freundschaften oder Bekanntschaften zu Menschen pflegt, die sich in islamistischen Gruppierungen engagieren. Wichtig ist: Man muss immer ganz individuell hingucken, um keine falschen Schlüsse zu ziehen.
Leikert: Bei einer fortschreitenden Radikalisierung kommt es oft zu einem Bruch mit dem "vorherigen Leben": Hobbys werden teilweise beendet, die Familie wird auf Distanz gehalten, Freundschaften werden teils abgebrochen, weil sie nicht in das starre Regelwerk der extremistischen Gruppe passen. Kommen solche Aspekte zusammen, können sich Familienangehörige an Beratungsstellen wenden, um sich fachkundige Beratung zu holen. Es ist völlig selbstverständlich, dass man sich als Elternteil oder als Freundin erstmal überfordert fühlt und die Situation nicht einschätzen kann.
Welche Rolle spielen soziale Medien im Prozess der Radikalisierung?
Leikert: Es gibt nicht den einen Weg der Radikalisierung, aber in den allermeisten Radikalisierungsprozessen von jungen Menschen und jungen Erwachsenen spielen soziale Medien, insbesondere TikTok, aktuell eine Rolle. Das scheint erstmal ein totales Novum zu sein - tatsächlich ist es aber so, dass extremistische Akteure aller Couleur sich schon immer den Medientrends und Angeboten der entsprechenden Zeit bedient haben. Soziale Medien sind Teil unseres Alltags. Extremistische Akteure wollen das ganz gezielt für sich nutzen. Die Logiken dieser Plattform werden dann instrumentalisiert oder für die eigenen Zwecke genutzt. Dabei arbeiten sie mit jugendaffiner Sprache und benutzen gerne Bildmaterial. Das hat großes Emotionalisierungspotenzial. Radikalisierung läuft auch immer über eine Bedürfnisbefriedigung und eine Emotionalisierung von bestimmten Themen. Ein weiterer Punkt ist die - wie es in der Kommunikationswissenschaft heißt - zufällige Rezeption. Es geht also um den Empfehlungsalgorithmus der Plattformen. Jugendliche suchen gar nicht unbedingt gezielt nach islamistischen Inhalten. Aber es gibt ein sehr großes Angebot, das jedem in den Feed gespült werden kann - und je mehr man dieses Videos dann guckt, desto mehr werden einem dann davon vorgeschlagen.
In der Debatte über Islamismus entsteht manchmal der Anschein, die Radikalisierung stehe im Zusammenhang mit Moscheen. Stimmt das überhaupt?
Hamm: Pauschalisierungen wie diese sind nicht sinnvoll. Das kann zu Ressentiments oder Rassismus führen. Moscheen sind nicht unbedingt die Orte, wo Radikalisierung stattfindet. Das war vor ein paar Jahren noch anders. Die Szene hat sich aber sehr gewandelt. Die islamistische Szene findet eher in privaten Kreisen statt. Was in der Debatte auch oft vergessen wird: Die meisten Opfer von Islamismus sind Muslime und Musliminnen.
Wie funktioniert Prävention in diesem Bereich?
Leikert: In der Präventionsarbeit gibt es zwei Pole. Die Primärprävention setzt dort an, wo noch keine Radikalisierung stattgefunden hat. Sie richtet sich an alle Menschen und sensibilisiert dafür, wofür Demokratie, politische Bildung, Menschenrechte und Demokratieförderung stehen. Damit können Menschen extremistische Propaganda erkennen, wenn sie ihnen begegnet. Dafür gibt es etwa Workshops an Schulen oder auch außerschulische Jugendarbeit. Außerdem gibt es die Prävention, die als Ausstieg oder Intervention bekannt ist. Da geht es um Deradikalisierungsarbeit, also die Arbeit mit Leuten, die im Radikalisierungsprozess schon weiter fortgeschritten sind. Es geht darum, diese Menschen darin zu bestärken, ihren Weg raus aus der Szene zu finden. Dafür braucht es Beratungsangebote.
Wie gut ist die Präventionsarbeit in Deutschland aufgestellt?
Hamm: In der Breite sind wir gut aufgestellt. Die einzelnen Präventionsakteure kämpfen allerdings mit großen Herausforderungen: Die Förderzeiträume sind zu kurz, teilweise erstrecken sie sich nur über ein Jahr. Das heißt, es ist sehr schwierig, nachhaltig zu arbeiten, Fachkräfte zu finden und zu halten. Es ist außerdem eine Herausforderung, Strukturen aufzubauen, weiter zu betreiben und so aufrechterhalten zu können, dass sie auch dem Bedarf entsprechen. Dabei geht es nicht ohne die Regelstrukturen. Es braucht also eindeutig längere Förderzeiträume. Es müssen definierte Qualitätskriterien umgesetzt werden und das muss breit gestärkt werden - ohne populistische Argumente, ohne Pauschalisierung und häufig leider auch von Unwissenheit durchtränkte Aussagen über Präventionsarbeit. Die Politik muss uns den Rücken stärken. Das heißt: keine ideologischen, sondern fachliche Debatten, die dafür sorgen, dass wir langfristig unsere Arbeit machen können.
Das Interview führte Anna-Lou Beckmann.