VW-Krise: Wie der Autobauer zurück in die Erfolgsspur will
Der VW-Konzern steckt in der Krise und denkt über die Schließung von Werken und über Kündigungen nach. Die Mitarbeitenden im Norden sorgen sich um ihre Zukunft. Ein Ausweg muss her, aber die Zeit drängt. Volkswagen fordert Förderprogramme vom Staat.
Für Luigi Catapano ist vor sieben Wochen eine Welt zusammengebrochen. Seit 25 Jahren arbeitet der 50-Jährige in Wolfsburg bei VW, aktuell im Zentrallager. Sein Großvater kam als Gastarbeiter in den 1960er-Jahren aus Italien nach Wolfsburg. Auch sein Vater war lange bei VW. Dass der Autokonzern in einer Krise steckt, das kennt Catapano nicht. Aber dann kam der 2. September: Es ist der Tag, an dem VW-Chef Oliver Blume die Hiobsbotschaft verkündet: Es fehlen Aufträge für eine halbe Million Autos. Entlassungen und Werksschließungen will der Vorstand nicht mehr ausschließen.
"Die größten Sorgen sind Existenzängste"
"Das gab es noch nie", sagt Luigi Catapano. "Es gab noch nie einen Vorstand, der das so gemacht hat. Wir haben immer gemeinsam nach Lösungen gesucht. Das ist ein Tabubruch." Betriebsbedingte Kündigungen? Das haben die meisten VW-Beschäftigten noch nie gehört. Seit 1993 gibt es bei VW eine Jobgarantie. Damit ist Ende des Jahres Schluss. "Die größten Sorgen sind Existenzängste. Wie geht’s weiter?", sagt der langjährige VW-Mitarbeiter. "Früher war das so: Wenn ein Volkswagen-Mitarbeiter einen Kredit aufgenommen hat - für ein Haus oder ein Auto -, da gab es bei den Banken überhaupt keine Probleme. Weil man wusste, bei Volkswagen ist das ein sicherer Arbeitsplatz. Das ist langsam nicht mehr so."
Was läuft bei der Kernmarke Volkswagen schief? Für Luigi Catapano ist die Sache klar: "Wir bauen richtig tolle Autos. Aber wir sollten wieder anfangen, einen Volkswagen zu bauen." Er meint: Einen Volkswagen im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Auto, das sich alle leisten können. Ein Auto, das weniger als 20.000 Euro kostet - und nicht 50.000 Euro oder mehr.
"Die Zukunft ist elektrisch"
Der Start in das Zeitalter der Elektro-Autos lief für VW nicht rund. Die ersten rein elektrischen Modelle kamen bei den Kunden nicht so an wie erhofft. Der elektrische ID.3 sollte eigentlich der neue Golf werden. Aber die hohen Erwartungen erfüllten sich nicht. In diesem Jahr rangiert das Modell gerade mal auf Platz 42 der Zulassungsstatistik. Und auf dem wichtigen Automarkt in China macht Volkswagen das Aufkommen chinesischer Autobauer zu schaffen, die mit ihren E-Autos den Geschmack der heimischen Käufer offenbar besser treffen.
Für Thomas Schäfer sind die überwiegend schlechten Nachrichten bei den E-Autos kein Grund, an der grundsätzlichen Ausrichtung des Konzerns etwas zu ändern. Er ist Markenvorstand von Volkswagen und sitzt im Vorstand des VW-Konzerns mit seinen insgesamt zehn Marken. "Wir haben sehr früh auf Elektromobilität gesetzt, und das war auch richtig so. Die Zukunft ist elektrisch", sagt Schäfer in der ARD Dokumentation "Krise bei VW - Alarmsignal für Deutschland?".
In Europa werden viel weniger Autos verkauft
Die E-Autos sind für VW bislang ein überschaubares Geschäft. Derzeit machen sie nur zehn Prozent der Produktion in Europa aus. Und auf dem europäischen Automarkt läuft es gerade generell nicht gut - für alle Autobauer. "Der europäische Markt hat zwei Millionen Fahrzeuge in Summe verloren. Wir haben einen Marktanteil als Konzern in Europa von ungefähr einem Viertel. Das macht für uns 500.000 Autos pro Jahr, die jetzt eben nicht mehr nachgefragt werden in Europa. 500.000 Autos pro Jahr sind zwei große Fabriken über den Daumen." Eine Besserung sei auch nicht in Sicht, so Schäfer. Und deshalb denkt der VW-Konzern laut über die Schließung von Werken nach.
Betriebsrätin Cavallo: Eine sehr schwierige Lage
Aber die Gewerkschaft IG Metall und die Beschäftigten wollen mitreden, wenn es um die Zukunftsperspektiven bei VW geht. Die Vorsitzende des Gesamt-Betriebsrats, Daniela Cavallo, hat harten Widerstand ankündigt. "Ich bin hier nicht angetreten als Betriebsratsvorsitzende, um in meiner Geschichte hier Standorte schließen zu müssen", sagt Cavallo im Interview mit dem NDR. "Ich weiß natürlich, dass wir auch in einer sehr, sehr schwierigen Lage aktuell sind. Und natürlich ist es nicht so, dass ich die Augen davor verschließe, dass wir wettbewerbsfähig sein müssen." Aber Wirtschaftlichkeit gehe nur Hand in Hand mit Beschäftigungssicherung, also ohne Schließungen und ohne Kündigungen.
Bürgermeister von Emden: Ein Schlag in die Magengrube
Noch ist unklar, welches Werk oder welche Werke in Deutschland von einer Schließung betroffen sein könnten. Oder in welchem Maße mögliche Entlassungen die einzelnen Standorte treffen. Volkswagen beschäftigt allein in Norddeutschland mehr als 100.000 Menschen. Der Bürgermeister von Emden, Tim Kruithoff (parteilos), verfolgt die Entwicklungen bei VW mit Sorge: "Als wir gehört haben, dass VW die Beschäftigungsgarantie aufkündigen will und auch über Werksschließungen nachdenkt, ist das natürlich für uns ein Schlag in die Magengrube gewesen. Denn wir hängen hier in der Region ganz wesentlich von Volkswagen ab."
Produktion von E-Autos ist gedrosselt
VW ist in Emden der größte Arbeitgeber. Seit 1964 werden in der 50.000-Einwohner-Stadt Autos gefertigt. Rund 8.000 Beschäftigte hat das Werk derzeit. Volkswagen hat zuletzt mehr als eine Milliarde Euro investiert, um auf E-Mobilität umzurüsten. Aber die Produktion läuft nicht auf vollen Touren, eine ganze Schicht wurde im vergangenen Jahr gestrichen. Ähnlich sieht es in der VW-Fabrik in Zwickau aus. Auch dort rollen viel weniger Elektro-Autos vom Band als möglich: Statt 1.500 sind es nur 1.050 pro Tag.
Emden: Zehntausende Familien sind von VW abhängig
In Emden spürt man den Umbruch in der Auto-Industrie schon länger: Zulieferer für Verbrenner-Autos sind fortgegangen. Zudem hat VW viele befristete Arbeitsverträge nicht verlängert. Die Folge: Die Arbeitslosenzahlen der Gemeinde sind seit August 2023 um mehr als 40 Prozent gestiegen. "Zehntausende Familien hängen von VW ab - entweder direkt, weil sie im Werk beschäftigt sind, oder indirekt", sagt Kruithoff. Der Bürgermeister ist überzeugt davon, dass E-Autos die Zukunft sind - auch für Emden. Aber wie wird der VW-Konzern entscheiden?
Ministerpräsident Weil: VW muss erfolgreich sein
Das Land Niedersachsen steht mehr denn je vor einem schwierigen Spagat. Als wichtiger Akteur im VW-Aufsichtsrat wird die Staatskanzlei in Hannover für die niedersächsischen VW-Werke und die Interessen ihrer Beschäftigten eintreten. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) verspricht aber auch, dass die Wirtschaftlichkeit des VW-Konzerns nicht aus dem Blick gerät: "Natürlich ist Volkswagen ein Unternehmen, das im Wettbewerb steht. Also müssen die Anteilseigner auch vor allen Dingen darauf achten, dass das Unternehmen erfolgreich ist. Denn sonst hat alles andere keinen Sinn."
Niedersachsen im VW-Aufsichtsrat: "Keine einfache Konstellation"
Dem Land Niedersachsen stehen zwei Sitze im Aufsichtsrat zu. Gegen das Land können deshalb VW-Standorte nicht ohne Weiteres verlegt oder geschlossen werden. "Das ist keine einfache Konstellation", sagt die Chefredakteurin der Zeitschrift "auto motor und sport", Birgit Priemer: "Das Land Niedersachsen wird natürlich alles dazu beitragen, die Marke VW und den VW-Konzern zu unterstützen. Das ist die gute Seite. Aber es wird nicht im Interesse des Landes Niedersachsen sein, dass Stellen abgebaut werden. Und manchmal müssen halt Zöpfe abgeschnitten werden."
Schäfer: "Wir brauchen gemeinsam einen Kraftakt"
Die IG Metall will eventuelle Werksschließungen und Kündigungen nicht einfach hinnehmen. Die Gewerkschaft bereitet schon eine mögliche Urabstimmung über unbefristete Streiks vor. Die ersten Entscheidungen könnten bei VW schon bald fallen. "Wir haben jetzt keine Zeit zu verlieren", sagt der Chef der Marke Volkswagen, Thomas Schäfer: "Wir brauchen kein langes Kräftemessen, sondern wir brauchen jetzt gemeinsam einen Kraftakt."
VW fordert Unterstützung vom Staat
Was die Lage nicht einfacher macht: Ab dem kommenden Jahr gelten in der EU strengere CO2-Vorgaben für die Hersteller. Um die neuen Grenzwerte einzuhalten, müsste VW seinen Absatz an E-Autos praktisch verdoppeln. Sonst drohen hohe Strafzahlungen. "2025 wird ein spannendes Jahr für die gesamte Auto-Industrie, um diese Flotten-Gesetzgebung einzuhalten", sagt Schäfer. "Die Grenze ist abrupt und sie müsste eigentlich auch flankiert werden von Maßnahmen der Politik, damit wir das erreichen."
Auch die Chefin der Gesamtbetriebsrates fordert im Interview mit dem NDR Unterstützung vom Staat. "Wir brauchen einen schnelleren Ausbau der Lade-Infrastruktur", meint Cavallo. "Und was ich sehr wichtig finde: Wir brauchen für die Zukunft nochmals die Debatte über Förder-Möglichkeiten."
Ziel: Die weltweite Nr. 1 unter den Herstellern
Die Hoffnung im Konzern ruht auf dem neuen ID.7 - eine Art Passat mit Batterie. Oder wie es bei VW heißt: "eine vollelektrische Limousine, die mit hohen Reichweiten und einem großzügigen Innenraum beeindruckt". Das Modell, das in Emden gebaut wird, soll der Elektromobilität im VW-Konzern endlich zum Durchbruch verhelfen. Zudem ist ein günstiges E-Auto zu einem Kaufpreis für rund 20.000 Euro geplant. Aber erst 2027 soll es so weit sein. Und der Produktionsstandort wird nicht in Deutschland liegen.
Die selbstgesteckten Ziele sind weiterhin hoch - trotz nie dagewesener Krise. "Wir müssen wieder der Nummer-Eins-Hersteller werden im Volumensegment weltweit!" So formuliert es VW-Vorstand Thomas Schäfer. Aktuell rangiert die Volkswagen AG auf Rang zwei - hinter Toyota.
Der 45-minütige Dokumentar-Film "Krise bei VW - Alarmsignal für Deutschland?" ist in der ARD Mediathek zu finden. Im Ersten läuft der Film heute um 22.50 Uhr.