Schlichtung im Tarifstreit - vorerst keine größeren Streiks
Nachdem sich die Arbeitgeber-Seite und die Gewerkschaften ver.di und dbb in der dritten und letzten Verhandlungsrunde nicht auf einen Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst geeinigt haben, gibt es ab Sonntag ein sogenanntes Schlichtungsverfahren. Während dieser Zeit darf nicht gestreikt werden. Der Ökonom Marcel Fratzscher hofft, dass es nach Ostern schnell zu einer Einigung kommt.
Die Gewerkschaften blieben in den Verhandlungen in Potsdam bei ihrer Forderung, dass es für die etwa 2,5 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst 10,5 Prozent mehr Lohn geben müsse, mindestens aber 500 Euro mehr. Dieser Betrag ist zentraler Punkt der Forderungen: Für die Bezieherinnen und Bezieher kleinerer Einkommen soll so ein Ausgleich für die hohe Inflation erreicht werden. Die Arbeitgeber boten zuletzt acht Prozent mehr Einkommen und einen Mindestbetrag von 300 Euro sowie eine steuerfreie Einmalzahlung von 3.000 Euro zum Abfedern der hohen Energiepreise an. Den Gewerkschaften war das zu wenig.
Auch bei der Laufzeit für den neuen Tarifvertrag gibt es unterschiedliche Vorstellungen: Die Gewerkschaften fordern eine Laufzeit von zwölf Monaten, die Arbeitgeber-Seite 27 Monate. Wie es aus Verhandlungskreisen hieß, zeigten sich hier beide Seiten aber kompromissbereit.
Fratzscher: "Einigung irgendwo zwischen 300 und 500 Euro"
Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sagte auf NDR Info, er gehe davon aus, dass es bei dem nun anstehenden Prozess vor allem um eine Anhebung der geringeren Einkommen gehen werde: "Ich vermute, man wird sich irgendwo zwischen den 300 und 500 Euro Mindestbetrag an zusätzlichem monatlichen Einkommen einigen." Das Arbeitgeber-Angebot von acht Prozent mehr Gehalt ist laut Fratzscher "eine ganze Menge". Daher sei er überrascht gewesen, dass die Gewerkschaften es abgelehnt haben.
Der DIW-Präsident sieht bei einem Tarifabschluss auch den Bund und vor allem die Länder in der Pflicht, die zum Teil stark verschuldeten Kommunen finanziell zu unterstützen. Der Staat als Ganzes könne einen höheren Tarifabschluss für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst stemmen. Für die Gewerkschaftsforderung von 10,5 Prozent mehr Lohn, die die Inflation noch nicht einmal komplett ausgleiche, hat Fratzscher Verständnis: "Menschen mit geringen Einkommen stärker zu unterstützen, halte ich für klug und sozial ausgewogen."
Tarifexperte Lesch: Unklar, ob Schlichtung zur Einigung führt
Der Tarifexperte des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft, Hagen Lesch, sagte im Interview mit NDR Info, es sei offen, ob die Schlichtung zur Einigung führe. 2010 habe es funktioniert, davor habe eine Schlichtung drei Mal nicht zum Ziel geführt. Die Erwartungshaltung sei durch die Forderungen der Gewerkschaften sehr hoch. Dementsprechend gebe es nun auch Probleme, diese bei den Mitgliedern zu kanalisieren. Der Energiepreisschub habe Unternehmen und Beschäftigte gleichermaßen getroffen, nun müsse ein fairer Lastenausgleich her, so Lesch. Ohne eine Einsicht der Gewerkschaften werde es aber nicht gehen.
Bremer Ex-Staatsrat einer der Schlichter
Die unabhängige Schlichtungskommission - unter dem Vorsitz des ehemaligen sächsischen Ministerpräsidenten Georg Milbradt für die Arbeitgeberseite und des ehemaligen Bremer Staatsrats Hans-Henning Lühr für die Gewerkschaften - bis Mitte April eine Lösung für den Tarifkonflikt auf Basis der vorliegenden Angebote suchen. Über die Vorschläge müssen Arbeitgeber und Gewerkschaften dann erneut verhandeln.
Friedenspflicht: Keine größeren Streiks bis Ostern
Da während der Schlichtung ab Sonntag eine Friedenspflicht herrscht, wird es bis inklusive Ostern zunächst keine größeren Streiks im öffentlichen Dienst geben. In Umfragen hatten weite Teile der Bevölkerung zuletzt Verständnis für die Streiks der Gewerkschaften bekundet - und für das Argument, dass viele öffentlich Bedienstete eher unterbezahlt seien.
"Am Ende mussten wir feststellen, dass die Unterschiede nicht überbrückbar waren", sagte ver.di-Chef Frank Werneke zum vorläufigen Scheitern der Tarifverhandlungen. Entsprechend äußerte sich auch der Chef des Beamtenbunds dbb, Ulrich Silberbach, für seine Gewerkschaft. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) als Verhandlungsführerin für den Bund und die Verhandlungsführerin der Kommunen, Karin Welge, bedauerten, dass die Gewerkschaften ein Scheitern erklärt hatten.
Kommunale Arbeitgeber in Niedersachsen kritisieren Scheitern
Die kommunalen Arbeitgeber in Niedersachsen reagierten mit Unverständnis auf das Scheitern der Tarifverhandlungen. Bundesweit habe das Angebot der Arbeitgeber eine Größenordnung von mehr als 17 Milliarden Euro umfasst, für die Kommunen und die kommunalen Unternehmen in Niedersachsen hätte das eine Belastung von etwa 1,8 Milliarden Euro bedeutet, teilte der Kommunale Arbeitgeberverband (KAV) Niedersachsen mit.
"Damit sind wir absolut an die Grenzen des Möglichen gegangen", sagte Hauptgeschäftsführer Michael Bosse-Arbogast. Er sei maßlos enttäuscht. Die Gewerkschaften wiederum halten der Gegenseite vor, nicht auf ihre Argumente eingegangen zu sein. Alexander Zimbehl vom Niedersächsischen Beamtenbund sagte, die Arbeitgeber hätten sich fast gar nicht bewegt. "Das hat einfach nicht gereicht, wir brauchen eine spürbare Entlastung", sagte Stefanie Reich, stellvertretende Landesleiterin ver.di Niedersachsen-Bremen.
Bedauern bei Hamburgs Finanzsenator Dressel
Hamburgs Finanzsenator Andreas Dressel (SPD) schrieb bei Twitter, es sei sehr bedauerlich, dass die Gewerkschaften die Verhandlungen abgebrochen hätten - trotz des weitreichenden Angebots der Arbeitgeber-Seite. Pedram Emami, Hamburg-Chef der Ärztegewerkschaft Marburger Bund, beklagte - ebenfalls bei Twitter - mangelnden Respekt.
Ole Borgard von ver.di Hamburg sagte auf NDR 90, 3, es gebe einige Punkte, bei denen einfach keine Einigung in Aussicht war. Das Angebot der Arbeitgeber-Seite trage der Forderung von 500 Euro mehr im Monat bei einer Laufzeit von einem Jahr überhaupt keine Rechnung.
Viele Warnstreiks im öffentlichen Dienst
Am vergangenen Montag hatte ein bundesweiter Streik, zu dem neben ver.di auch die Eisenbahn Verkehrsgewerkschaft (EVG) ihre Mitglieder aufgerufen hatte, vor allem den Bahn- und Flugverkehr in Deutschland weitgehend lahmgelegt. Schon in den Wochen und Monaten zuvor hatten Beschäftigte im öffentlichen Dienst immer wieder begleitet von Arbeitsniederlegungen in verschiedenen Bereichen - unter anderem in Kitas, in Krankenhäusern, bei der Müllabfuhr und in der Verwaltung - für ihre Forderungen in dem Tarifkonflikt demonstriert.
Ver.di sieht sich durch die massiven Warnstreiks der vergangenen Wochen gestärkt. Von der "größten Warnstreik-Beteiligung seit vielen Jahren und Jahrzehnten" sprach Werneke. Die Gewerkschaft verzeichnete über 70.000 Eintritte in den vergangenen drei Monaten.