Migrationsforscher: Integrationsdebatte führt in die Sackgasse
In der Debatte über die gewaltsamen Vorkommnisse in der Silvesternacht wird auch über den Migrationshintergrund von Tätern diskutiert. Das gehe jedoch am Problem vorbei, sagt der Ethnologe Jens Schneider. Denn mittlerweile sei ein Migrationshintergrund normal - und die wirklichen Ursachen gerieten aus dem Fokus.
Nicht nur in Berlin hat es an Silvester vielfach Ausschreitungen und Angriffe gegen Polizisten und Rettungskräfte gegeben. Auch in Norddeutschland gab es gewaltsame Übergriffe. In Garbsen wurden vier Feuerwehrmänner verletzt, als sie einen Containerbrand löschen wollten. Tage danach gab es Angriffe auf NDR Reporter und ihr Fahrzeug. In Hamburg sind nach Ausschreitungen in der Silvesternacht mehr als 20 Tatverdächtige in Gewahrsam genommen oder festgenommen worden. Es handele sich um junge Männer aus Hotspots, sagte Innensenator Andy Grote (SPD) im NDR Hamburg Journal. "Da spielt das Thema Migrationshintergrund auch mit rein", sagte Grote. Er warnte zugleich: "Ich glaube, man darf es sich an der Stelle nicht zu einfach machen." Für eine differenzierte Debatte wirbt auch der Ethnologe und Migrationsforscher Jens Schneider vom Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.
Herr Schneider, wie nehmen Sie die Debatte über die Silvesterkrawalle und die Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund wahr?
Jens Schneider: Ich nehme das wahr wie einen Reflex, dass man der Debatte jetzt wieder das Etikett "Migration" oder "Migrationshintergrund" aufklebt und sich damit im Grunde in eine Sackgasse begibt. Das lässt durchblicken, dass man immer noch nicht verstanden hat, dass ein Migrationshintergrund mittlerweile normal ist - also eine Eigenschaft ist, die auf die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen in großen Städten zutrifft. Die Aussagekraft, dass viele der Beteiligten einen Migrationshintergrund haben, wird immer geringer oder tendiert gegen null. Demografisch gesehen wäre es eher erstaunlich, wenn die nicht die Mehrheit der Beteiligten stellen würden.
Wie hoch ist denn der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland und speziell bei uns im Norden?
Schneider: Der Vorreiter ist der Süden. In Offenbach haben über 60 Prozent der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund, das heißt, das gilt für 80 Prozent der Jugendlichen - in Frankfurt liegt diese Zahl bei 70 Prozent. In München und Stuttgart beträgt der Anteil der Gesamtbevölkerung rund 47 Prozent. Da fallen dann Hamburg und Hannover nicht so auf, weil der Gesamtanteil hier immer noch bei gut einem Drittel liegt. Aber wenn Sie auf bestimmte Hamburger Stadtteile blicken - und da brauchen wir gar nicht Wilhelmsburg, Harburg oder Veddel nennen, sondern das gilt schon für die Sternschanze, St. Pauli, Horn und Hamm - dann sehen Sie, dass da über die Hälfte der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund hat. Migrationshintergrund ist, wer einen Elternteil oder einen Großelternteil hat, der nach Deutschland migriert ist.
Unter den in der Silvesternacht in Hamburg Festgenommenen hatte ungefähr die Hälfte einen Migrationshintergrund.
Schneider: Es wäre komisch, wenn es nicht so wäre. Festzustellen, dass sie einen Migrationshintergrund haben, ist ein bisschen wie zu sagen: "Die vor ein paar Wochen Festgenommenen aus der Reichsbürgerszene waren alle Deutsche." Was will man damit sagen? Gar nichts. Man sagt es ja auch nicht, weil es sinnlos ist. Man müsste dann schon genauer hinschauen. Es macht einen Riesenunterschied, ob ich über junge Leute spreche, die hier geboren und aufgewachsen sind, die hier zur Kita gegangen sind, in der Schule waren, eine Ausbildung gemacht haben oder gar studieren - oder ob ich über junge Leute spreche, die mit 15, 16 Jahren aus Syrien hierher geflüchtet sind. Da kann ich über Integration sprechen! Aber wenn ich bei hier Geborenen, die hier durchs Bildungssystem gegangen sind, über Integration spreche, dann geht das am Thema komplett vorbei.
Auf was müsste in der Debatte über die Gewalt gegen Rettungskräfte und Polizei der Fokus gelegt werden? Woher kommt diese Aggression?
Schneider: Es gibt aus meiner Sicht zwei Ursachen. Die eine Frage ist: Ist das nicht ein gesamtgesellschaftliches Phänomen? Möglicherweise gibt es eher eine Verbindung zu Gaffern, die Rettungskräfte angreifen, weil diese verhindern wollen, dass sie Fotos machen. Die andere Linie ist zu fragen: Warum gibt es möglicherweise so viel Wut? Ist es auch ein Ausdruck von Wut, der sich an so einem speziellen Abend wie Silvester zeigt - also dem Abend, an dem man es ordentlich krachen lässt - und warum richtet sich diese Wut gegen Ordnungshüter, Rettungskräfte, gegen den Staat? Und da kann die Frage Migrationshintergrund oder nicht eine Rolle spielen, weil wir in der Gesellschaft zu wenig darüber reden, wie Menschen, die mit einem bestimmten Aussehen und Namen hier groß werden, von kleinauf mitbekommen, dass sie nicht dazugehören. Oder dass sie Risiko laufen, diskriminiert zu werden. Das geht in der Schule los, das geht bei der Suche nach Arbeit oder einer Wohnung weiter, und da ist dann von der Härte des Gesetzes auf einmal nicht mehr die Rede.
Wie müsste darauf der Fokus besser gelenkt werden? Was wäre Ihre Empfehlung?
Schneider: Im Grund sagt diese aktuelle Debatte aus, wie erschreckend wenig die Polizei, die Politik und auch die Medien, die ja immer noch überwiegend weiß, bürgerlich, deutsch geprägt sind, über diese Stadtteile wissen und über die Lebenswirklichkeiten dieser jungen Leute. Dann ist man immer total überrascht, wenn dann so etwas wie an Silvester passiert. Aber diese Wut, die ist ja nicht aktuell, die ist ja fortlaufend da. Die gibt es das ganze Jahr über.
Schleswig-Holsteins Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) schrieb auf Twitter: "Wir können jetzt natürlich gerne 18 Wochen lang dämliche Metadebatten über Integration führen oder wir schützen Einsatzkräfte und Bevölkerung mit nem Verbot von Böllern." Ist das der nötige Pragmatismus in der ansonsten auch politisch aufgeladenen Diskussion?
Schneider: Sobald es um Migrationshintergrund geht, fangen wir an Debatten über Integration zu führen. Ich glaube, das bringt uns nichts. Wir müssen gucken, ob es strukturelle Aspekte gibt, um da auch Gerechtigkeit walten zu lassen. Dazu gehört für mich, dass man mal ernsthaft über Diskriminierung redet und über eben nicht gleiche Chancen, wenn man etwa einen ausländischen Namen hat. Wir hatten das seit Jahrzehnten schon mit der Adresse: Wenn ich in Hamburg aus Billstedt oder Mümmelmannsberg komme, dann ist es sehr viel schwieriger, einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Man hat sich damals nicht drum gekümmert und man kümmert sich heute nicht drum.
Gibt man den Menschen das Etikett "Migrationshintergrund", reden wir sofort von Leuten, die nicht "wir" sind. Dann reden wir vor allem über Integrationsprobleme und Zuwanderung. Es geht nicht mehr darum, ob möglicherweise die soziale Situation, ausgegrenzt zu sein, die Wohnverhältnisse in diesen Wohnblocks eine Rolle spielen. Stattdessen werden die Leute sofort auf der anderen Seite platziert: Das sind nicht wir.
Wie sollten die Medien damit umgehen: Wann ist die Herkunftsnennung nötig?
Schneider: Tja, was heißt Herkunftsnennung? Das sind ja Hamburger Jungs, wenn die nicht selbst migriert sind, sondern hier groß geworden sind. Die Migrationsgesellschaft durchzieht uns eben komplett. Es kann sein, dass wenn jemand aus einer muslimischen Familie kommt, dass das natürlich eine Rolle spielt, wenn derjenige sich radikalisiert und nach Syrien geht. Ob es dafür eine Rolle spielt, dass man im Supermarkt klaut, Teil einer Drogengang wird oder auf der Straße gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei sucht, das wage ich zu bezweifeln. Aber zu verstehen, dass es normal ist, dass wir in 20, 30 Jahren in allen Familien einen Migrationshintergrund haben werden, kriegen Sie natürlich in einem Beitrag nicht unter.
Wie kann die Mehrheitsgesellschaft besser mit dem Thema umgehen?
Schneider: Das Dilemma besteht immer noch darin, dass wir das für nicht normal halten: dunkle Hautfarbe haben, einen arabischen Namen tragen, Migrationshintergrund haben. Das wird immer noch als etwas nicht Deutsches betrachtet. Dann fokussiert man sich darauf. Dabei müssen wir endlich verstehen: Arabische Namen sind genauso deutsch wie Namen, die vor 50 Jahren deutsch waren. Und eine dunkle Hautfarbe sagt überhaupt nichts darüber aus, ob die Person mehr oder weniger deutsch ist, ob sie integriert werden muss. Da muss man immer wieder aufpassen, dass man sich nicht auf die Gedankenwelt von Rechten einlässt, für die das immer durchgängig die zentrale Unterscheidungslinie ist. Das darf sie einfach nicht mehr sein. Das löst das Dilemma in der Berichterstattung nicht, aber es ist gut darüber zu debattieren und nicht über Integrationsprobleme oder ob der Migrationshintergrund an dieser Stelle eine Rolle gespielt hat.
Das Interview führte Daniel Sprenger für NDR Info
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version dieses Interviews hatte es geheißen, dass der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund in Frankfurt bei 70 Prozent der Gesamtbevölkerung liegt - diese Zahl bezieht sich aber auf die unter 18-Jährigen. Wir bitten den Fehler der Redaktion zu entschuldigen.