Gesundheitsexperte: "Langzeit-Erkrankungen haben deutlich zugenommen"
Unternehmen haben mit immer mehr und längeren Krankenständen zu kämpfen. Welche Ursachen das hat und warum Geld allein das Probleme nicht löst, erklärt Volker Nürnberg. Er ist Professor für Gesundheitsmanagement an der Hochschule Allensbach.
Herr Nürnberg, wie ist es um den aktuellen Krankenstand in Deutschland bestellt?
Volker Nürnberg: De facto ist der Krankenstand im Vergleich zu anderen Ländern hoch. Und auch im Vergleich zu den letzten Jahren und Jahrzehnten ist er deutlich höher als sonst und kontinuierlich angestiegen. Eine Ausnahme gab es interessanterweise während der Corona-Pandemie: Dort ist er sogar zurückgegangen.
Wenn wir über Krankenstand sprechen, sind das dann hauptsächlich Kurzzeit-Erkrankungen durch eine Erkältung oder eine Grippe oder eher Langzeit-Erkrankungen wie durch einen Bandscheibenvorfall oder eine psychische Erkrankung?
Nürnberg: Die letzten Jahre haben die Langzeit-Erkrankungen deutlich zugenommen. Über die Hälfte der Erkrankungen sind inzwischen Langzeit-Erkrankungen, also mehr als sechs Wochen. Und hier stechen vor allem psychischen Erkrankungen, insbesondere Burn-out und Erschöpfungssyndrome, hervor. In diesem Bereich gab es einen enormen Anstieg und sie sind der Haupttreiber für den steigenden Krankenstand. Es sind also nicht die einzelnen Fehltage, die ins Gewicht fallen, sondern wirklich die schweren Erkrankungen.
Welche Gründe gibt es dafür, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer öfter länger krank sind?
Nürnberg: Es gibt verschiedene Gründe. Der starke Anstieg jetzt hängt auch ein bisschen damit zusammen, dass es während Corona weniger Krankheitsfälle gab. In der Pandemie waren alle Arbeitnehmer sehr loyal mit ihrem Arbeitgeber, gerade in der Pflege sind die Angestellten doch immer arbeiten gegangen. Das sind jetzt sozusagen auch die Langzeitfolgen der Covid-Pandemie. Hinzu kommt aber auch der demografische Wandel. Ältere Menschen haben mehr und längere Fehlzeiten. Außerdem gibt es auch noch ein paar neue spannende Effekte. Es fällt zum Beispiel auf, dass es an besonders heißen Tagen als Folge des Klimawandels besonders viele Herz- und Kreislauf-Erkrankungen gibt.
In den vergangenen Wochen gab es auch in vielen norddeutschen Bundesländern Rekordwerte beim Krankenstand. Welche Rolle spielen dabei auch statistische Phänomene?
Nürnberg: In der Tat ist es ein Problem, dass wir keine offizielle Kranken-Statistik haben. Das heißt, manche Firmen zählen die ersten Fehltage ohne Krankenschein gar nicht mit, andere Firmen rechnen die Kranken ab sechs Wochen nicht mehr mit, weil dann die Lohnfortzahlung von der Krankenkasse übernommen wird. Und die Krankenkassen selbst haben auch wieder eine andere Arithmetik. Die zählen jeden Tag mit, auch das Wochenende, selbst wenn man nicht gearbeitet hätte. Als neuer Effekt kommt nun außerdem noch die elektronische Krankenakte hinzu. Früher haben viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer den Krankenschein bei ihrer Krankenkasse nicht abgegeben, weil er nur für die Lohnfortzahlung nach sechs Wochen relevant wird. Jetzt wird das digital erfasst und dadurch geht nichts mehr verloren. Das heißt, ein erheblicher Teil des Anstiegs ist durch die neue digitale Erfassung entstanden.
Der mittlerweile ehemalige Finanzminister Christian Lindner hat einmal bemängelt, dass es den Arbeitnehmern mit der elektronischen Krankschreibung zu einfach gemacht werde. Was halten Sie von dieser Aussage?
Nürnberg: Diese These würde ich nicht unterschreiben. Ich halte die telefonische Krankschreibung für sinnvoll. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Arbeitnehmer in der Regel die telefonische Krankschreibung nicht missbrauchen. Das geht ja ohnehin nur bei bestimmten Diagnosen und für eine kurze Zeit. Außerdem hat es auch Vorteile, wenn sich jemand nicht in die Arztpraxis begibt, wo er sich eventuell ansteckt und wo er erstmal einen Termin vereinbaren muss, durch den er dann vielleicht auch bei der Arbeit fehlt.
Wie steht Deutschland denn im internationalen Vergleich beim Thema aktuell da?
Nürnberg: Deutschland ist auf jeden Fall ein Ausreißer. Auch beim Thema Arztbesuche, wir haben doppelt so viele wie andere Industrie-Staaten. Das Spannende ist, dass es zum Beispiel in einigen skandinavischen Ländern die Möglichkeit gibt, längere Zeit ohne Krankenschein fehlen zu können, zum Teil über Wochen. Trotzdem ist deren Krankenstand aber niedriger als unserer. Man sieht daran also auch, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sehr verantwortungsvoll mit dem Thema umgehen.
Spielt auch die wirtschaftliche Lage eine Rolle?
Nürnberg: Die Konjunktur spielt auf jeden Fall eine gewisse Rolle. Wenn es der Wirtschaft einigermaßen gut geht, dann ist auch der Krankenstand hoch. Wenn eine Wirtschaftskrise herrscht, sind weniger Menschen krank, weil sie eine gewisse Angst haben.
Vor welchen Herausforderungen stehen die Unternehmen denn aktuell mit Blick auf den hohen Krankenstand?
Nürnberg: Besonders hart trifft es aktuell die Pflege, aber auch die Busfahrer und den Öffentlichen Dienst. Das Land Berlin ist bei 41 Fehltagen pro Jahr pro Angestellten. Das ist schon sehr hoch. Am Ende ist es auch nicht nur der Krankheitsausfall selbst, den das Unternehmen bewerkstelligen muss, sondern auch die Folgekosten. Vielleicht muss ein Leiharbeitnehmer geholt werden oder ein Produkt wird nicht gefertigt, weil der Arbeitnehmer fehlt. Man kann davon ausgehen, dass ein Krankentag in einer durchschnittlichen Branche locker einen Schaden von 1.000 Euro verursacht. Das ist also ganz schön erheblich.
Und wie kann ich das als Chef vermeiden?
Nürnberg: Untersuchungen zeigen, dass die Kultur eines Unternehmens der entscheidende Faktor ist. Wenn es eine gute Führungskultur gibt, eine gute Atmosphäre, dann geht ein Arbeitnehmer eher arbeiten. Wenn er einen autoritären Chef hat, der ihn morgens erstmal anbrüllt, dann bleibt er eher zu Hause, wenn ihm vielleicht der kleine Zeh wehtut. Man kann es also positiv beeinflussen, wie sich der Krankenstand entwickelt.
Mittel und Wege für gesündere und zufriedenere Arbeitnehmer gibt es viele. Einige Unternehmen zahlen Anwesenheitsprämien, andere bieten Präventivkurse in Zusammenarbeit mit Krankenkassen an. Welche davon sind Ihrer Meinung nach wirklich sinnvoll?
Nürnberg: Die Anwesenheitsprämien haben eher nur einen kurzfristigen Effekt, da bin ich kein großer Anhänger von. Wenn der Arbeitnehmer Ende des Quartals vielleicht doch krank wird, schleppt er sich wahrscheinlich krank zur Arbeit und kann dort noch die anderen anstecken. Einen monetären Ansatz sehe ich nicht unbedingt als vorteilhaft.
Was würden Sie stattdessen empfehlen?
Nürnberg: Ich empfehle den Unternehmen dringend die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen, aber auch mit den anderen Sozialversicherungsträgern wie der Renten- oder der Unfallversicherung, die aktuell gute Angebote machen.
Es geht im Allgemeinen aber auch immer um Verhalten und Verhältnisse. Das Verhalten betrifft die Mitarbeiter selbst. Also sitzen sie beispielsweise richtig. Die richtigen Verhältnisse wie die richtigen Stühle, die richtigen Schichtdienste oder die richtige Kultur muss das Unternehmen schaffen. Und selbst, wenn man Geld in Dienstleister investiert, kann man sehen, dass sich das nach zwei bis drei Jahren durch einen niedrigeren Krankenstand rechnet. Deshalb der dringende Appell an die Unternehmen, das Gesundheitsmanagement in die Kultur zu implementieren und mit gesunden Arbeitsbedingungen den Krankenstand dann wirklich nachhaltig zu senken.
Trotzdem wird es sicher noch viele Unternehmen geben, die sagen, dass es früher ja auch ohne all diese Maßnahmen geklappt hat. Ist diese Haltung noch zeitgemäß?
Nürnberg: Es ist sogar noch die Mehrheit, insbesondere der kleinen und mittelständischen Unternehmen, die sehr wenig für die Gesundheit ihrer Mitarbeiter macht. Da hat sich das noch nicht durchgesetzt. Das ist aber nicht mehr zeitgemäß, da sich eine gesunde Kultur ja auch auf die Attraktivität einer Firma, eines Arbeitgebers einzahlt. Es spricht sich herum und wird auch im Internet in den Arbeitgeberportalen hinterlegt, ob du gesunde Arbeitsbedingungen hast oder nicht. Und wenn gesunde Arbeitsbedingungen vorherrschen, gibt es weniger Kündigungen und die Unternehmen erhalten vielleicht auch mehr Bewerbungen.
Also kann sich aus einer schlechten Unternehmenskultur auch eine Art Abwärtsspirale entwickeln ...
Nürnberg: Es gibt auf jeden Fall einen Zusammenhang zwischen Personalmangel und Krankenstand. Wenn der Personalmangel hoch ist, dann müssen die vorhandenen Mitarbeiter mehr arbeiten. Die wiederum sind dadurch gestresster und werden folglich auch krank und dann ist der Personalmangel noch höher. Diese Wechselwirkung gilt es zu durchbrechen. Deshalb gibt es den Appell an die Unternehmen, die noch nichts tun, in diesem Bereich jetzt dringend einzusteigen.
Das Interview führte Anna-Lou Beckmann.