Experten aus SH verteidigen telefonische Krankschreibung
Arbeitgeber und Politiker in Berlin sehen einen Zusammenhang zwischen hohem Krankenstand und telefonischer Krankschreibung - und fordern, diese wieder abzuschaffen. Unternehmer und Hausärzte aus SH widersprechen.
Schleswig-Holstein steuert in diesem Jahr auf einen neuen Rekord bei Krankschreibungen zu: Nach Angaben der AOK Nordwest kamen bereits zwischen Januar und August auf 100 AOK-Versicherte rund 240 krankheitsbedingte Arbeitsausfälle - das sind so viele wie im gesamten Vorjahr. Die DAK berichtet mit Blick auf ihre Versicherten, dass es auch im sonst infektionsarmen Sommer knapp ein Zehntel mehr Krankschreibungen gab als im Sommer 2023.
Woran das liegen könnte, wird in der öffentlichen Debatte unterschiedlich diskutiert: Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber (BDA) sieht zum Beispiel einen Zusammenhang zwischen der hohen Zahl an Krankmeldungen und der Möglichkeit, sich telefonisch krankzumelden. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) schlägt in diese Kerbe. Seit Dezember 2023 ist aus der einstigen Corona-Regelung eine dauerhafte Regelung geworden. Die Bundesvereinigung der Arbeitgeber fordert jetzt, die telefonische Krankschreibung wieder abzuschaffen, um Missbrauch vorzubeugen.
Unternehmensverband Nord widerspricht: Ärzte arbeiten gewissenhaft
In dieser Forderung steckt der Vorwurf, dass Ärzte nicht gewissenhaft mit der telefonischen Krankschreibung umgehen und Personen krankschreiben, die es nicht sind. Ein Eindruck, dem der Unternehmensverband Nord (UV Nord) - zuständig für Schleswig-Holstein und Hamburg - widerspricht. Es gebe nicht diesen einen Grund für den hohen Krankenstand, sagt Hauptgeschäftsführer Michael Thomas Fröhlich.
"Die Gründe kommen aus ganz anderen Richtungen: nämlich einer sehr hohen und früh eintretenden Grippewelle, einer weiterhin doch vernehmlichen Impfmüdigkeit und der Tatsache, dass Covid 19 nach wie vor unter uns ist." Michael Thomas Fröhlich, Hauptgeschäftsführer UV Nord
Fröhlich habe viel mehr den Eindruck, dass Werksärzte und niedergelassene Ärzte im Norden bisher sehr sorgfältig mit der telefonischen Krankschreibung umgegangen sind: "In der Regel werden Patienten, die man kennt, deren Symptomatik man einschätzen und abklopfen kann, tatsächlich krankgeschrieben." Einen leichtfertigen Umgang mit dem Thema oder gar einen "Gelber-Zettel-Tourismus" erkenne er für Schleswig-Holstein nicht - und spricht sich dafür aus, die telefonische Krankschreibung beizubehalten.
Hausärzteverband SH nennt Forderung hanebüchen
Großer Gegenwind kommt auch von den Hausärzten im Land: "Es wäre total hanebüchen, diese Maßnahme jetzt wieder abzuschaffen", sagt Jens Lassen, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Schleswig-Holstein. Die Einführung der telefonischen Krankschreibung war laut Lassen medizinisch und versorgungspolitisch eine richtige und sinnvolle Entscheidung, um die Bürokratie und Arbeitsbelastung in den ohnehin überlasteten Praxen zu verringern.
"Die Regelungen dafür sind ganz klar definiert: Wir machen eine telefonische Krankschreibung für maximal fünf Tage, wenn keine schweren Symptome vorliegen. Und auch nur, wenn wir diese Patientinnen und Patienten kennen." Jens Lassen, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Schleswig-Holstein
Die Unterstellung, dass sich Menschen mithilfe der telefonischen Krankmeldung einen schlanken Fuß machen würden, könnten die Hausärzte und -ärztinnen aus der täglichen Arbeit nicht bestätigen. "Wir schreiben doch jetzt nicht einfach völlig unkontrolliert in großem Stile krank", so Lassen.
Elektronische Übermittlung sorgt für Anstieg der Krankentage
Dafür, dass die Zahl der Krankmeldungen nach oben geschnellt ist, gibt es laut Lassen einen anderen, durchaus bekannten Grund: "Wir übermitteln jetzt über die elektronische Krankschreibung jede, ausnahmslos jede, Krankmeldung an die Kassen." Vorher hätten die Patienten einen gelben Schein in die Hand bekommen, den viele nicht per Post an ihre Arbeitgeber geschickt hätten, wenn sie nur einen oder zwei Tage krank waren. Häufig muss eine Krankmeldung erst ab dem dritten Tag vorgelegt werden. "Deswegen haben die Kassen schlicht und einfach weniger Zeiten gemeldet bekommen", so Lassen. Die elektronische Übermittlung habe zu einem sprunghaften Anstieg der Krankentage geführt, die aber nicht mehr, sondern jetzt nur korrekt erfasst werden würden.
UV-Nord: Mindset von Arbeit hat sich verändert
Fröhlich vom Unternehmensverband Nord beobachtet in den Mitgliedsunternehmen noch einen weiteren Grund dafür, warum Arbeitgeber sich heute häufiger krankmelden als früher: "Was uns schmerzt ist die Tatsache, dass das Mindset von Arbeit sich ein bisschen auch auf die Krankschreibungspraxis niederschlägt." Besonders jüngere Arbeitnehmer hätten weniger Sorgen, einen neuen Arbeitgeber zu finden, wenn es beim Alten Unzufriedenheit über die vielen Fehltage geben würde. Hausarzt und Verbandssprecher Lassen sieht auch darin eine positive Folge der Corona-Pandemie.
"Wir haben doch vonseiten der Medizin und der Politik während der Pandemie den Menschen immer gesagt: Wenn ihr krank seid, dann bleibt gefälligst auch konsequent zu Hause." Jens Lassen, Vorsitzender des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands Schleswig-Holstein
Das würde dann eben dazu führen, dass die Leute Krankheiten ernster nehmen im Umgang mit Atemwegsinfektionen vorsichtiger geworden sind. "Das ist gesundheitlich und aus unter rein medizinischen Gesichtspunkten auch keine falsche Entwicklung, dass man sagt: Ein Mensch, der krank ist, ist zu Hause und nicht bei der Arbeit."
Hausarzt: Arbeitgeber müssen Gesundheitsangebote machen
Es sei von Seiten der Arbeitgeber in Zeiten von wirtschaftlich schwierigen Fahrwassern zu kurz gedacht, den "Schwarzen Peter" an ihrer Arbeitnehmer weiterreichen und zu sagen: Nun arbeitet mehr und lasst euch nicht so viel krankschreiben, so Lassen. "Es sind die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber gefordert, Arbeitsbedingungen herzustellen und Gesundheitsangebote an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu machen, die dazu beitragen, dass diese gesund bleiben." Eine Forderung, die laut UV-Nord-Geschäftsführer Fröhlich bei Unternehmen in Norddeutschland, seit der Pandemie angekommen ist: "Es ist keine Sprechblase, wenn wir davon reden, dass das wichtigste Gut im Unternehmen der Mitarbeiter die Mitarbeiterin sind und wir wollen jetzt auch dort Vorbild sein." Immer mehr Unternehmen würden Angebote zu Gesundheitsprophylaxe und Stressabbau machen.