Amoklauf in Hamburg: Experte wirft Polizei "digitales Versagen" vor
Die Behörden in Hamburg hätten die Amoktat im Stadtteil Alsterdorf, bei der am 9. März acht Menschen ums Leben kamen, nach Meinung des Terrorismus- und Extremismus-Experten Stephan Humer möglicherweise recht einfach verhindern können. Die Reaktion von Beamten der Waffenbehörde auf ein anonymes Schreiben von Ende Januar bewertete er auf NDR Info als "krassen Fall digitalen Versagens".
Bei einer Pressekonferenz von Innenbehörde, Staatsanwaltschaft und Polizei war am Dienstag bekannt geworden, dass Beamte der Waffenbehörde der Hamburger Polizei dem Hinweis auf ein Buch des späteren Amoktäters Philipp F. bei einer Online-Recherche offenbar nur oberflächlich nachgingen. Sie fanden das Buch weder über Google noch über seine Internetseite. Aus dem Buch, in dem F. wirre religiöse Thesen vertritt, wären möglicherweise Hinweise auf seine gewalttätige Gesinnung herauszulesen gewesen, sodass ihm seine Waffenerlaubnis hätte entzogen werden können. Zu dieser möglichen Polizei-Panne und zu weiteren Fragen rund um die Amoktat äußerte sich Stephan Humer, Professor an der privaten Hochschule Fresenius in Berlin, auf NDR Info.
Herr Humer, Sie haben die Pressekonferenz der nach der Amoktat in Hamburg ermittelnden Behörden mitverfolgt. Was war Ihr Eindruck?
Stephan Humer: Je länger das gedauert hat, desto nervöser bin ich auf meinem Stuhl hin- und hergerutscht. Ich konnte erst gar nicht glauben, was da alles gesagt wurde. Für mich ist das der krasseste Fall digitalen Versagens, von dem ich in den letzten Jahren - eigentlich seit ich Wissenschaft betreibe - gehört habe. Ich kann mich an keinen krasseren Fall erinnern, wo mit einfachsten Mitteln digitaler Art eine Tat aller Wahrscheinlichkeit nach hätte verhindert werden können. Das hat mich wirklich negativ überrascht. Ich glaube, das ist wirklich der Tiefpunkt der ohnehin an Tiefpunkten nicht gerade armen Geschichte der Digitalisierung in Deutschland.
In dem anonymen Schreiben, das Ende Januar bei der Polizei in Hamburg eingegangen ist, wurde auf mögliche psychische Probleme von Philipp F. und dessen Buch hingewiesen. Die ihm erst Mitte Dezember erteilte Erlaubnis zum Besitz einer Pistole solle überprüft werden. Hätten bei der Polizei nicht da schon alle Alarmglocken schrillen müssen?
Humer: Absolut! Ich weiß nicht, worauf man noch warten soll. Wenn man sich die jüngere Geschichte anschaut, was Terrorismus und Amoktaten angeht, dann spielen sogenannte Manifeste da ja eine ganz entscheidende Rolle. Das haben wir hierzulande in Hanau gesehen, auch in Neuseeland oder Norwegen. Wenn ein Tipp kommt und jemand sagt, schaut mal bitte, was der schreibt - das ist prototypisch. Da muss man eigentlich alle Hebel in Bewegung setzen, um diese Veröffentlichung zu finden. Davon hängt alles ab! Das ist der entscheidende Schlüssel zum Verständnis der Ideen, die ein Täter hat.
Die Behörden haben zwei Wörter bei Google eingegeben und online zu dem Buch - nach allem, was wir bisher wissen - nichts gefunden. Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe dafür?
Humer: Das lag an der digitalen Kompetenz - anders kann ich mir das wirklich nicht erklären. Selbst Kinder und Jugendliche wissen heutzutage ganz genau, was sie wo und wie eingeben müssen, wenn sie nach jemandem online suchen. Das ist schon seit vielen Jahren Allgemeinwissen. Suchen in Suchmaschinen wie Google - das ist seit mehr als zwei Jahrzehnten allerkleinstes Einmaleins. Das müsste jeder jederzeit in einem so oberflächlichen Kontext beherrschen können. Wenn ich nach einer Person oder einem Buch suche, da muss ich gar nicht nachdenken, das passiert unterbewusst. Da war ich wirklich erstaunt, dass man sich dann noch hinstellt als Polizei Hamburg und sagt, wir gehen da schon weiter als andere Behörden, da wird vielleicht sowas gar nicht gemacht. Da frage ich mich wirklich, wie es um die Kompetenz in diesem Fall bestellt ist.
Die Ermittelnden in Hamburg sagen, es wäre hilfreich gewesen, wenn der Hinweis im Januar nicht anonym eingegangen wäre, sondern man bei dem Hinweisgeber oder der Hinweisgeberin noch einmal hätte nachfragen können. Für Sie ein berechtigter Einwand?
Humer: Es ist doch völlig egal, ob jemand seinen Namen druntersetzt oder nicht. Es kommt auf die Fakten, den Kontext und die Stichhaltigkeit an, ob die Dinge zusammenpassen. Was ist das für eine Ausrede? Wenn das alles zusammenpasst, wenn man Insiderwissen hat, wenn man sagt, diese Person, die ist folgendermaßen unterwegs, die hat folgende Ideen, ihr könnt sie daran und daran erkennen, sie hat dazu ein Buch geschrieben - dann habe ich doch genug Kontext, um mir das mal anzuschauen und zu recherchieren. Das wurde ja vor Ort auch gemacht: Was die Verwahrung der Waffe angeht, war man ja anscheinend auch sehr gründlich. Aber beim Digitalen, da geht man dann daran und sagt "Ja, da haben wir schon richtig viel gekonnt, denn wir machen schon mehr als andere". Und das, was man gemacht hat, hält man für herausragend. Das ist für mich unverständlich.
Das rein rechtliche Vorgehen der Polizei scheint in diesem Fall nicht zu beanstanden sein. Aber die Beamten hätten aus Ihrer Sicht noch einen Schritt weiterdenken und -gehen müssen, richtig?
Humer: Die Überprüfung der Lagerung der Waffe, die Bewertungen auf Aktenlage - das scheint alles funktioniert zu haben, ja. Aber da, wo es digital wurde, war man entweder wirklich maximal lustlos oder hat das, was man gemacht hat, für ausreichend kompetent gehalten. Und genau das ist für mich der Knackpunkt! Das, was da als Maßstab angesetzt wurde, ist für das Jahr 2023 absolut inakzeptabel. Ich kann mich doch nicht hinstellen als Polizeipräsident und sagen, eine Suche bei Amazon zu starten, sei "unnormal". Man hat das Buch bei der Google-Suche nicht gefunden? Na ja, dann investiere ich noch mal 30 Sekunden Zeit, um da dann entsprechend zu Ergebnissen zu kommen, weil das Buch bei Amazon schon seit mindestens Ende Dezember gelistet war. Wenn ich sehe, dass nur im digitalen Bereich so viel schiefläuft, dann hat man wirklich entweder keine Lust auf diese Arbeit - oder ist absolut inkompetent. Das darf sich eine Waffenbehörde wirklich nicht leisten.
Polizeipräsident Ralf Martin Meyer hat gesagt, dass genau das, was Sie ansprechen, nicht in den Kompetenzbereich der Beamtinnen und Beamten in der Waffenbehörde fällt. Kann man das aus Ihrer Sicht - nach dieser Tat - als Begründung so stehen lassen?
Humer: Nein, das finde ich nicht, denn wir reden bei einer Google-Suche nach einem Buch über Alltagswissen. Ich fand die Aussage des Polizeipräsidenten nicht überzeugend, dass in der Waffenbehörde keine Experten für Recherchen sitzen, die quasi irgendwie nachrichtendienstliche Kompetenzen mitbringen, um Leute zu durchleuchten. Wenn es um die Erteilung von Waffenlizenzen geht, müssen dort Beamte sitzen, die auch befähigt werden, so recherchieren zu können. Aber das wäre ja gar nicht nötig gewesen. Wir reden wirklich von einfachsten Alltagskompetenzen; einer Online-Suche nach einem Buch oder einer Person - und sich eine Website mal ordentlich anzuschauen. Draufgeguckt hat man ja, aber anscheinend nicht gut genug. Man muss doch das Minimum an Digital-Kompetenz aktivieren, Webseiten durchlesen, Profile bei irgendwelchen Social-Media-Plattformen, was auch immer. Dafür brauche ich keine besondere Kompetenz. Da kann ich mich nicht hinstellen und sagen, für mehr als die Suche nach einem Buch braucht es Expertenwissen. Die Anforderung an digitales Wissen geht heutzutage schon ziemlich weit. Und wenn ich darauf keinen Wert lege, dann scheitere ich eben.
Welche Konsequenzen muss dieser Fall für die zukünftige Arbeit bei der Polizei haben?
Humer: Nach der jetzigen Sachlage müssen aus meiner Sicht die Prozesse in den Waffenbehörden entsprechend angepasst und das Digitale stärker in den Vordergrund gestellt werden. Wir haben es in der Forschung und auch in der Praxis ganz häufig gesehen: Diese Manifeste, dieser Selbstdarstellungsdrang - das alles spielt eine riesige Rolle. Da kann ich mich nicht zurückziehen und sagen: "Na gut, wir haben was versucht, aber das hat nicht so ganz funktioniert." Da muss man mehr Energie reinstecken, darf sich nicht einfach auf das Gesetz zurückziehen, und muss prüfen, ob man da etwas verbessern kann. Die Behörden sind die, die hier die entscheidende Rolle spielen.
Spielt auch die Überlastung der Behörden in diesem Zusammenhang eine Rolle? Muss dort personell nachgebessert werden?
Humer: Die Mitarbeitenden in den Waffenbehörden müssen sich viel stärker befähigen, sie brauchen viel mehr Unterstützung, Ressourcen und natürlich auch Geld. Aber wenn man das Thema nicht ernst nimmt, dann passiert eben genau das, was jetzt passiert. Das Waffengesetz ist wahnsinnig komplex und es kann sich nicht jeder jederzeit in jedem Bereich auskennen. Es bringt nichts, das Gesetz noch komplexer zu machen, wenn es schon lange keiner mehr durchsetzen kann. Und solange es einzelne Waffenbehörden in Deutschland gibt, die von Halbtagsstellen verwaltet werden, darf man sich nicht wundern, dass das irgendwann nicht mehr funktioniert. Da braucht es zwingend eine entsprechende Professionalisierung.
Das Interview führte Lukas Knauer, NDR Info.