So war das M'era Luna 2024
Musikalisch war das Festival ein Mosaik, das sich am zweiten Tag zusammengesetzt hat und Assoziationen zur Klassik hervorgerufen hat, findet Festival-Reporterin Jacqueline Moschkau.
Der Sonntag beginnt mit JanRevolution aus Kronach. Martialische Trommelschläge begrüßen mich auf dem Gelände. Es ist elf Uhr, der Planet brennt und die Musik rockt. Dankbar begrüßt Sänger Jan die morgendliche Crowd: "Die Hälfte eurer Gesichter kennen wir!". Nach zwanzig Jahren spielen sie endlich auf dem M'era Luna. Ihre Fans haben sie hierher gevotet: Dies ist die zweite Band aus dem Newcomer Contest des Festivals.
Dankbarkeit ist das Thema des Tages. Auch beim Auftritt der Mittelalter-Rock-Band Schandmaul steht das im Mittelpunkt. Im vergangenen Jahr wurde bei Sänger Thomas Lindner Kehlkopfkrebs diagnostiziert. Den gesamten Gig über steht er mit auf der Bühne, doch er kann noch nicht wieder singen. Stattdessen am Mikro: der ehemalige Russkaja-Sänger Georgij Makazaria. Lindner hält nur eine kurze Ansprache. Die Fans haben Tränen in den Augen. Ganzkörpergänsehaut!
EBM, Wave und 80th Synth-Pop haben 2024 die Vorherrschaft
Ich pendle wieder, so gut es mein persönlicher Timetable zulässt, zwischen den Bühnen und streune über das Festival- und das Camping-Gelände. Beim Hören der Musik, Beobachten der Shows und in der Betrachtung des Festival-Völkchens fällt mir auf: Es gibt eine gewisse Homogenität und zugleich etwas stark Fragmentarisches dieses Jahr. Das reine Schwarz dominiert.
Dadurch, dass der Goth-Rock ebenso wie der Mittelalter-Rock nur Randerscheinungen bei dieser Festivalausgabe sind, sind auch die nordisch-mythologischen Kostüme und die Steam Punker, die Cyber-Goths und die edwardianisch inspirierten Outfits rar. Dass elektronische Musik, vor allem Techno, in den letzten Jahren salonfähig geworden ist, hat auch das M’era Luna erfasst. EBM (Electronic Body Music), Wave und 80th Synth-Pop haben 2024 die Vorherrschaft. Bei Welle: Erdball strebt die Show sogar in Richtung HardTekk, ich denke kurz an den Künstler Klatschkind.
Zeraphine: Kontrapunkt ohne Attitüde
Zwischen die klerikalen Narrative mit Totenkopfmasken und die düster-romantischen Inszenierungen mit Frauen in weißen Brautkleidern und Blumenkränzen auf den Köpfen mischen sich brachiale Momente mit Stahlmann oder den Krupps. Aber eben auch: Zeraphine. Gothic-Rock-Fans kennen die Combo um Sven Friedrich (war letztes Jahr mit seiner Band Solar Fake auf dem M'era Luna) zum Beispiel als Vorband von H.I.M. aus den 2000ern.
So hoch wie die Finnen sind sie nie gestiegen - aber auch nie so tief gefallen. Nur haben sie lange nichts gemacht und spielen, worüber sich vor allem Sänger Friedrich köstlich amüsiert, lauter Songs, die "schon ganz, ganz alt" sind. Sie sind sanft, statt brachial; setzen auf Lyrics, statt Show; sie bilden den Kontrapunkt ohne Attitüde.
Lord of the Lost: Grillatmo mit Sonne, Pyrofeuer und Glitter-Panade
Ein weiteres Highlight am Sonntag sind natürlich die Glam Rocker Lord of the Lost. Da stehe ich schon nur an der Seite und denke: Kann es noch heißer werden? Die Sonne heizt ein und zusätzlich werden die ersten Reihen von Pyrofeuer gegrillt und in Glitter paniert. Dazu die heißen Outfits - allen voran Frontmann Chris Harms im hautengen silbern glitzernden Ganzkörper-Anzug. Alle Hände recken sich in die Höhe, die Köpfe nicken. Harms sucht die Nähe zur Menge, flitzt von links nach rechts bis an die äußersten Ränder der Bühne und wirft Gitarrenplättchen in die Menge - neben Drumsticks die beliebtesten Devotionalien der Rockmusik.
"Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun", erklingt das Lukasevangelium, auf Englisch, als chorischer Frauengesang. Harms steht vor der Menge mit zum Dreieck erhobenen Armen und lässt sich einem Erlöser gleich anbeten. Oh doch, sie wissen genau, was sie tun!
Düstere Musik wertschätzt das Leben
Die Entfremdung von der Welt, in der wir leben, verlangt nach Verfremdung im ästhetischen Zugang zu ihr. Das haben alle Bands, die beim M'era Luna auftreten in ihrer je eigenen stilistischen Ausprägung gemein. Nichts ist nur schön, nichts läuft immer glatt. Das Leben hat Ecken und Kanten. Seine dunklen Seiten nehmen Metal, Goth Rock und Co. absolut ernst - und hämmern unermüdlich die Doublebass und Stakkato-Riffs, die wilden Synthie-Kaskaden und opulenten Gesänge dagegen.
Je düsterer die Erscheinung in Form von Bandnamen und Bühnenoutfits, desto mehr scheint die Musik zu schreien: Wir geben nicht auf, wir haben etwas, wofür wir leben. Und selbst, wenn der Tod in den Songtexten siegt, was er im wahren Leben am Ende ja auch immer tut, wertschätzt diese düstere Musik das Leben, die Liebe und die Verbundenheit.
Epica: Melodiöser Klargesang vs. zornigem Growling
Das funktioniert, weil unter der bombastischen Geräuschkulisse letztlich kirchliche Harmonien liegen. In der Verzerrung nicht mehr so klar und rein wahrnehmbar, lassen sich letztlich doch alle Songs auf Dur oder Moll, Akkorde und bekannte Taktstrukturen, die Tonalität aus der alteuropäischen Kirchenmusik zurückführen. Manchmal bricht das ganz deutlich hervor: In den Tanzliedern von Schandmaul oder dArtagnan, im Tango mit Eden weint im Grab, im chorischen Gesang bei Lord of the Lost und - in absoluter Vollendung - bei Epica. Die harten Metal-Gitarren werden mit sinfonisch-opulenten Keyboardsounds kombiniert.
Engelsgleich steht Sängerin Simone Simons, im klassischen Gesang ausgebildet, inmitten der monströsen Brachialklänge ihrer Bandkollegen - inklusive melodiösem Klargesang versus zornigem Growling, was den sogenannten Beauty-and-the-Beast-Gesang ergibt. Aus dem Hintergrund des Bühnendunkels ragt eine riesige metallene Kobra hervor. Monster überall. Doch Simons singt um unser aller Seelenheil. "Wir lieben die Monster, nicht wahr? Und wir alle lieben Musik", ruft sie der Menschenmenge auf dem Hildesheimer Flugplatz entgegen. "Forever and ever", antwortet die Menge im Song "Cry For The Moon".
VNV Nation bringt zum Abschluss alle losen Fäden zusammen
Und dann das Finale: Diese Band bringt alle losen Fäden der letzten zwei Tage zusammen. VNV Nation. Ronan Harris ist eine Instanz, ein Meister auf dieser Bühne, in einer gewaltigen Show. Auf seine Musik ist quasi körperlich Verlass: Der Bass wummert gerade heraus, die Vocals sind melodisch und nehmen jede*n mit. Man hat etwas, worauf man vertrauen kann - und das in einer Welt, in der man sich auf fast nichts mehr verlassen kann.
Aber der nächste Beat kommt so zuverlässig wie der nächste Herzschlag. Die Synthie-Sounds erden und verankern im Hier und Jetzt. Das ist pure Geborgenheit und Lebensfreude. Die Menge tobt, von den harten Metallern über die Wave- und EBM-Fans bis zu den Dunkel-Gothics. Alle treten miteinander in Verbindung und sind in Gemeinschaft.
Einheit mit "größtem Scheibenwischer Hildesheims"
Zuhause hört jede*r die Platten der Lieblingsbands und kommt über die Texte und die Musik ins Nachdenken über das Selbst und das eigene Leben. Doch auf einem Konzert oder Festival verbindet sich dies mit anderen Menschen, mit anderen Fans und vor allem mit den Musiker*innen - also mit der Welt da draußen. Dass dieses verbindende Etwas, dieser besondere Moment eintritt, ist nie garantiert. Das einzigartige Erleben lässt sich nicht erzwingen. Das haben verschiedene Bands an diesen zwei Tagen spüren müssen.
Bei anderen wiederum war das emotionale Echo so stark, dass die Hundertschaften vor der Bühne zu einer Einheit verschmolzen sind. Da wiegen sich die Arme von links nach rechts und bilden den "größten Scheibenwischer Hildesheims" wie im Konzert von Erdling. Dann gehen Fäuste in die Höhe, Körper wippen gemeinsam im Takt, manche springen, schütteln die Köpfe und lassen die Haare fliegen.
M'era Luna: Mehr als Entertainment
Es geht eben um mehr als Entertainment: Diese Musik und diese Community hat etwas Existenzielles, wie die Menschen im Hier und durch das Hiersein sich selbst und die Welt erfahren. Noch ein Fun Fact am Rande: Abgesehen von den musikalischen Aspekten haben laut einer psychologischen Studie der Universität Edingburgh Metal-Fans und Klassik-Liebhaber ein nahezu identisches Persönlichkeitsprofil.
Sie sind offen für Kreativität und gelten u.a. als introvertiert. Sie erwarten von der Musik eine Begegnung, eine sinnstiftende, identitätsbereichernde Erfahrung. Immerhin sind sowohl Klassik als auch Metal Musiken, in denen viel passiert und die dramatisch und sehr laut werden können.
Resümee mit besonderen und verbindenden Momenten
Ich habe meine All-time Favourites gesehen: Deine Lakaien. Ich bin mit Zeraphine noch mal in meine Jugend gereist. Ich war überrascht, dass ich auf Epica viel mehr angesprungen bin als beim letzten Konzert, das ich von ihnen gesehen habe - manchmal ist man eben nicht in Stimmung.
Viele Bands habe ich das erste Mal live erlebt und ich nehme auch neue Inspiration für meine "muss ich mal ausführlich hören"-Playlist mit nach Hause. Obendrauf kommen diese besonderen, verbindenden Momente, von denen es hier auf dem M'era Luna 2024 zahlreiche gab - das ist deutlich spürbar vor der Bühne, auf dem Mittelaltermarkt, im Disco Hangar, am Rand des Geschehens ebenso wie mittendrin.