Pilgerfahrt der Schwarzen Szene: Das M’era Luna beginnt
25.000 Menschen sind auf dem Weg nach Hildesheim, um ASP, VNV Nation, Epica, Front 242 und weitere Stars der Goth-Rock- und Metal-Szene zu feiern - und die ganze literarische, modische und kreative Lebenskultur drumherum. Unsere Reporterin Jacqueline Moschkau schildert ihre persönlichen Eindrücke.
Jährlich reisen etwa 25.000 Menschen nach Hildesheim und treffen hier auf etwa 40 Bands - jedes Jahr ein große Wiedersehen, seit fast 25 Jahren. Das M’era Luna ist neben dem Wave-Gotik-Treffen (WGT) in Leipzig der bedeutendste Szene-Treff. Offiziell beginnt das Festival mit seinen Konzerten am Sonnabend, doch schon am Freitag gibt es mit kleineren Veranstaltungen, wie Lesungen, ein gewisses Warm Up.
Für einige hat die Pilgerfahrt allerdings schon vor Stunden oder gar Tagen begonnen. Nicht nur die Bands kommen aus Nordamerika, Deutschland, Schweden, Frankreich, Belgien, den Niederlanden, der Türkei und so weiter. Auch die Fans reisen aus der ganzen Welt an: von Europa bis Mexiko, Amerika bis … wer weiß. Ich werde auch da sein - ich bin Jacqueline Moschkau und werde vom Festival berichten.
Das erwartet die Fans beim M’era Luna 2024
Am Sonnabend und Sonntag spielen auf der Main Stage und auf der der Club Stage insgesamt 39 Bands. "Nur die Harten komm‘ in Garten" heißt es so schön. Und dass Himmel und Hölle, Licht und Dunkel, Lebensfreude und Melancholie zwei Seiten einer Medaille sind, wird das kommende Wochenende wieder in allen Facetten zur Schau stellen - da bin ich mir sicher. Denn rein musikalisch kommt Folgendes auf das Publikum zu.
Elektronisch, zum Teil hart, zum Teil poetisch, aber immer irgendwie tanzbar sind die Electronic-Body-Music-Helden Front 242 und VNV Nation. Die Veranstalter selbst kündigen sie auf der Homepage auch als zwei von vier der ganz großen Festival-Stars an. Weiter geht’s mit einem starken Schwerpunkt in den Genres Wave, Electro-Synth-Pop und Industrial Rock: JanRevolution, Re.Mind, Rroyce, S.P.O.C.K., Funker Vogt, Assemblage 23, Extize, Future Lied To Us, [x]–Rx, Shadows in the Dark [:SITD:] und Die Krupps changieren in diesem Feld.
Von "Neue Deutsche Härte" bis lyrisch-poetische
Elektronischer wird es mit dem Aggrotech von Centhron, Suicide Commando oder Combichrist Old School und dem Alternative Electro von Steril und Welle: Erdball. Wer es härter mag, sollte die Vertreter der Fraktion "Neue Deutsche Härte" nicht verpassen: Die Herren Wesselsky, Oomph!, Hämatom, Stahlmann (im Stream) - das Genre spricht für sich. Etwas mehr Punk, etwas mehr Weltlichkeit verspricht die Post-Punk-Band London After Midnight. Und dann wäre da noch das poetische Special: Post Punk mit Dark-Wave-Einflüssen und epischen türkischen Texten von She Past Away.
Den Anschluss ans lyrisch-poetische macht die Industrial-Punk-Wave-Band The Cassandra Complex - mit dem gewissen mystischen Touch in den Songtexten. Schließlich drehen wir das Rad der musikalischen Farben noch ein Stück weiter und sind bei Deine Lakaien angekommen - nach wie vor die Avantgarde-Band in der Szene, denn die Einflüsse aus der Minimal Music und anderer Neuer Musik des 20. Jahrhunderts sind stilprägend.
Gothic: Ein dunkel-romantisches Versprechen
Das ist, wenn man so will, der schwarze, harte Teil des Festivals. Das M’era Luna ist aber gemein hin als Gothic-Rock-Festival bekannt - und da erwarten wir etwas düster-romantisch Verspieltes mit viel Sehnsucht und der sakralen Aura, die das Wort Gotik verspricht. Dieses Jahr bilden in diesem Sinne des Pudels Kern: Lacrimas Profundere, Schwarzer Engel, Erdling, Zeraphine und Lord of the Lost aus den Genres Alternative beziehungsweise Dark Rock, Sleaze-Rock und Gothic Metal. Dazu gesellt sich die Goth- und Doom-Metal-Band Eden weint im Grab, die Death-Metal- oder Death-Glam-Band Deathstars und natürlich Epica als Vertreter des Epic Metal.
Reise rückwärts: Exotische Spielarten inspiriert von Rock’n’Roll und Minnegesang
Interessante Variationen am Rande bringen Hell Boulevard mit ihrem Rock’n’Roll-inspirierten Goth’n’Roll sowie die Mittelalter- und Folk-Rock-Bands Saltatio Mortis, dArtagnan und Schandmaul mit aufs Fest. Und wer noch mehr Poetik, mehr tiefschürfende Texte und zwei weitere Stars der Szene erleben möchte: Das Ich präsentiert Neue Deutsche Todeskunst und ASP ihr eigenes Genre, den Gothic Novel Rock.
Das M’era Luna - Nachfolger des Zillo-Festivals
Einige dieser Bands sind Stars der ersten Stunde: Funker Vogt, Oomph!, Suicide Commando, The Cassandra Complex, VNV Nation waren schon im August 2000 mit dabei. Denn das war das Jahr, als alles begann. Das Musikmagazin Zillo etablierte 1993 ein Open Air, das zunächst an verschiedenen Orten in Deutschland und von 1996 bis 1999 auf dem Flughafengelände in Hildesheim stattfand. Als FKP Scorpio das Event als Veranstalter übernahm, stieg Zillo aus und ab 2000 etablierte sich das M’era Luna in Hildesheim-Drispenstedt - jährlich und inzwischen zuverlässig am zweiten Augustwochenende. Über die Jahre hinweg entstand auch im Line-up eine Art Regelmäßigkeit: Die großen Stars wechseln sich im Zwei-Jahres-Rhythmus ab. Bei manchen wirft das die Frage auf: Wozu diese permanente Wiederholung, gibt es keinen musikalischen Nachwuchs? Doch dazu kommen wir später noch.
Eurovision Song Contest und andere Bekanntheiten
Für alle, die neu sind in der Szene oder sich nur aus reiner Neugierde mal damit beschäftigen: Einige der oben genannten Bands sind auch im Mainstream nicht ganz unbekannt. Oomph! beispielsweise gewannen 2007 zusammen mit der Die-Happy-Frontsängerin Marta Jandová für Niedersachsen den dritten Bundesvision Song Contest.
Außerdem lief bereits 2004 die Single "Augen auf" im Radio hoch und runter. Ich kann mich noch ziemlich gut daran erinnern, da es mich beim Lernen fürs Abitur gefühlt permanent begleitet hat und einfach eingängig ist, denn es ist eine Adaption des Kinderreims "Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein". Auch aus dem ESC-Kosmos: Lord of the Lost gingen 2023 beim Eurovision Song Contest für Deutschland an den Start - und belegten den letzten Platz. Beim Wacken Festival im selben Jahr holten sie die Sängerin Jasmin Wagner a.k.a. Blümchen auf die Bühne und schmetterten eine Tech-Pop-Rock-Version ihres 90er-Jahre-Hits "Herz an Herz" den Metal Heads entgegen. Irgendwie gehört Blümchen auch zu meiner musikalischen Sozialisation. In den 90ern lief einfach immer irgendwo ein Radio, man kam also um so vieles nicht drum herum.
Weiterhin ist einigen möglicherweise Alexander Wesselsky bekannt, Kopf der Band Die Herren Wesselsky und Gründer von Megaherz und Eisbrecher. Er ist nämlich auch Fernsehmoderator in diversen TV-Shows rund um Autos und Abenteuer.
Die Kultur, das gemeinsame Erleben, das Rahmenprogramm
Im Zentrum steht die Musik, klar. Aber das M’era Luna ist - ebenso wie das WGT - eine eigene Welt, ein Zuhause, eine Kultur. Zu einem Festival der Schwarzen Szene gehört auch das gemeinsame Erleben, das Miteinander. Dazu gehört auch besondere Kleidung, das sich Herausputzen und (wortwörtlich) in Szene Setzen. Dazu gehört auch ein Interesse, das über die Musik hinaus geht: Heute Abend beginnt das Festival mit dem "Crypt Talk", einer Gesprächsrunde, mit Chris Harms von Lord of the Lost und M’era Luna Chefbooker Stephan Thanscheidt. Es folgen Lesungen und dann der legendäre Einstieg in die erste Nacht mit Disko-Sets im Hangar. Natürlich darf der Mittelaltermarkt nicht fehlen mit bunten Verkaufsständen und leckerem Essen, Tanz und Treffpunk für spontane Happenings. Seit 2017 gibt es die M'era Luna Academy mit Workshops, Fashion Show und natürlich Meet-And-Greets mit den Stars.
Gut zu wissen: Von letzten und immer guten Erlebnissen
Die Ur-Väter des EBM spielen ihr letztes Festival: Front 242 haben Anfang des Jahres kundgetan, dass sie sich von den Bühnen dieser Welt zurückziehen werden. Das tun sie natürlich nicht sang- und klanglos. 2024 gehen sie ein letztes Mal auf Tour - und spielen zum letzten Mal auf dem M’era Luna. Am Sonnabend um 21 Uhr besteht also die Chance auf ein mitreißendes Erlebnis, wenn die drei Belgier ihre 40-jährige Bandgeschichte besiegeln. Neben diesem kleinen Tipp für die individuelle Festivalplanung habe ich im nächsten Blogeintrag noch mehr auf Lager. Insgesamt aber ist das M’era Luna immer ein Erlebnis.
Die Bands, die Fans und das Konzept haben das Festival in meiner Erfahrung in den letzten Jahren immer wieder positiv beeinflusst. Dazu gehören auch kostenfreie Wasserspender (also Trinkflasche nicht vergessen), ein vielseitiges, auch veganes Essensangebot, Umweltbewusstsein zum Beispiel durch Mülltrennung und ein einfaches, aber effektives Sicherheitskonzept mit Safer Space. Egal ob Unwohlsein, Überforderung, Diskriminierung, Gewaltandrohung oder (sexuelle) Übergriffe: Mit der Frage "Wo geht's nach Panama?" oder einfach mit dem Codewort "Panama" kann jeder Mensch, der sich in einer unangenehmen oder unsicheren Situation befindet, bedroht oder belästigt wird, einfach und unkompliziert Hilfe bekommen.
Das Warten hat sich gelohnt! Ich stelle mir jetzt mein Outfit für den ersten Abend zusammen und ab morgen steigen wir tiefer hinab in diese dunkelbunte Welt und zu ihren Bewohner*innen.