M'era Luna: Der Abend vor dem Start
Bevor das M'era Luna Festival offiziell startet, heißt es für viele vorab: Willkommen zu Hause! 25.000 Fans der Schwarzen Szene bilden an diesem Wochenende in Hildesheim eine große Familie - mit dabei: Reporterin Jacqueline Moschkau.
25.000 Menschen, das ist eine sehr große Familie. Aber so ist es und so fühlt es sich an. Es fühlt sich an wie die Heimkehr in ein liebevolles Zuhause. Klingt pathetisch? Ist aber so und lässt sich sogar in der Metal-Musik nachvollziehen, denn die wird insbesondere in der Schwarzen Szene sinn- und identitätsstiftend, eine Lebensform. Die dunkle Familie ist an diesem zweiten August-Wochenende wieder zusammengekommen, um 39 Bands zu feiern, Lesungen zu hören, ihre Make-up-Künste und Outfits zu perfektionieren, zu tanzen und all das tun sie gemeinsam, als Gemeinschaft, im Einklang.
Das M’era Luna Festival ist das norddeutsche Zuhause der Schwarzen Szene, jener Metal-Fans, die alles gerne dunkelbunt haben. Vor allem dem Familienbegriff, der wie automatisch immer wieder in Verbindung mit den Gothik-Treffen in Hildesheim und Leipzig auftaucht, will ich nachspüren. Denn dass die musikalisch fundierte Peergroup eine Art Ersatzfamilie für in jungen Jahren verwahrloste Menschen, Außenseiter*innen, "Sonderlinge" sei, das greift mir doch zu sehr in die küchenpsychologische Trickkiste. Das verfehlt einfach gänzlich, worum es hier geht.
Gesprächsrunde mit Chefbooker und Lord of the Lost-Frontsänger
Am Freitag, einen Tag vor dem offiziellen Start, wurde der Campingplatz freigegeben. Am Abend öffnet das Festival schon mal für ein kleines Warm-up seine heiligen Pforten. Im Crypt Talk, einem Podiumsformat mit dem Chefbooker des Festivals Stephan Thanscheidt und Chris Harms, dem Frontsänger der Band Lord of the Lost, dreht sich das Gespräch unter anderem um die Frage: Nach welchem Prinzip wird das Line-up erstellt, welche Bands werden aufs Festival eingeladen? Denn es gibt durchaus Stimmen, das habe ich in meinem vorherigen Beitrag bereits anklingen lassen, die monieren: "Ach, die spielen schon wieder, aber warum nicht jene?". Dabei versteht Thanscheidt seinen Job mit dem gewissen Feingefühl durchaus als Gatekeeping und sich selbst als aktiven Wegbereiter.
Im Gespräch sagt er: "Das M'era Luna will natürlich auch die Erneuerung und der Nährboden für eine Szene sein. Ich will Bands begleiten und sehen, was wächst und gedeiht." Thanscheidt will das Neue fördern und das Gute erhalten. Daher spielen immer wieder die großen Stars und gleichzeitig gibt es den Newcomer-Wettbewerb, welcher der einen oder anderen Band durchaus schon auf der Leiter nach oben verholfen hat, die auf jedem Festival-Plakat so klar zu erkennen ist.
Emotionale Erinnerungen beim Hören
Das Altbewährte, das - im besten Sinne - Gewohnte, das Bekannte zu erhalten sei wichtig. Nicht nur die großen Stars haben sich ihren Weg nach oben hart erarbeitet und künstlerisch verdient. Manche Metal-Bands, aus welchem Subgenre auch immer, haben drei oder mehr Jahrzehnte Bandgeschichte zu verzeichnen. Das bedeutet nicht nur ein umfassendes Œuvre, zahlreiche Tonträger im Plattenladen stehen und hunderte Konzerte gespielt zu haben, vielmehr bedeutet das: tausende Ohren erreicht und tausende Herzen berührt zu haben.
Diese Musik markiert für viele Menschen biografische Fixpunkte, hat sich in ihre Lebensgeschichten geschrieben. Ich fühle wieder das rebellierende Teenager-Mädchen in mir, das auf einer Online-Plattform namens Friedhofsforum mit wildfremden Menschen philosophiert und dazu Placebo und H.I.M. und Zeraphine gehört hat. Ich erinnere mich an ganze Szenen meiner Adoleszenz, wenn Nightwish aus meiner Stereoanlage wummerte, denn mit dieser Musik hatte mich meine erste Liebe bekannt gemacht. Musik weckt emotionale Erinnerungen beim Hören.
Erinnerungen und Vorfreude bei den Fans
Jan und Victoria sind auch in diesem Jahr dabei. Sie freuen sich vor allem auf ASP, denn "diese Band bedeutet für uns Kindheit und Jugend", erzählt Jan. "Dennoch sehen wir sie hier beim M'era Luna das erste Mal live - das macht das Festival noch mal mehr besonders", ergänzt Victoria. Auch Andrea und Axel sind ASP-Fans. "Diese Musik begleitet uns schon lange", sagt Axel und Andrea erklärt ihre Affinität: "Das ist einfach geile schwarze Mucke mit Texten mit Hirn."
Die individuelle Verbundenheit spürt Angelique vor allem bei einem Lied von VNV Nation: "Das verbinde ich ganz stark mit meiner besten Freundin und wenn wir das hören, heulen wir beide Rotz und Wasser." Inga freut sich auf Zeraphine und kennt die Band seit sie Vorband von H.I.M. war - "das ist ja schon Ewigkeiten her", lacht sie und ergänzt: "Aus Zeraphine ist einfach so viel entstanden und es ist toll, sie dieses Jahr hier auf dem M'era Luna wieder erleben zu können."
Trotz Veränderungen: Der Zusammenhalt bleibt
Und während sich so viel im Leben verändert: Schulwechsel, Trennung der Eltern, Auszug zum Studium oder Beginn der Ausbildung, Freundschaften bahnen sich an und zerbrechen wieder, ebenso Romanzen - die Musik bleibt eine Konstante und doch irgendwie auch nicht. Chris Harms, Frontsänger der Band Lord of the Lost, berichtet im Crypt Talk von Fan-Briefen, die von Menschen berichten, die im Krankenhaus waren "und nur durch eure Musik hatte die Person die Kraft, das durchzustehen".
Es ist tröstlich zu wissen, dass auch die Bands ihre Hochs und Tiefs durchmachen, sich verändern und entwickeln, Verluste erleiden oder Siege feiern - eben wie man selbst. Alles scheint miteinander verbunden. Und wenn sich Fans und Musiker*innen dann auf Konzerten oder Festivals wiedertreffen, ob persönlich oder über den Bühnengraben hinweg, ist es wirklich wie eine Familienzusammenkunft, wo man von den Hochs erzählen und die Tiefs verschweigen und bestenfalls gemeinsam in den guten alten Zeiten schwelgen will.
Rezept für Family-Feeling auf dem M'era Luna
Caroline freut sich auf jede einzelne Band "ab Samstag 15 Uhr", denn in Frankreich, wo sie herkommt, gibt es ein Festival dieser Art, mit dieser Musik nicht. Janna feiert Schandmaul, "weil sie ein klares politisches Statement haben und das bei jedem, wirklich jedem Auftritt wieder zum Besten geben: Bunt, statt braun."
Und dann begegne ich Yvonne und Andreas. Sie wissen ganz genau, was es mit dem Family-Feeling auf dem Festival auf sich hat. "Wir sind seit 1996 hier in Hildesheim dabei, als das M’era Luna noch Zillo-Festival hieß", erzählt Andreas. "Wir haben hier Freundschaften geschlossen und treffen uns jedes Jahr wieder. In den 90er-Jahren war alles noch ganz klein, der Zeltplatz direkt neben der Hauptbühne und die Stimmung, die damals vorherrschte, die existiert noch heute." Insbesondere freuen sich die beiden für und auf Rroyce. "Das sind Freunde von uns und wir feiern mit ihnen ihr Debüt auf dem M’era Luna!", sagt Yvonne strahlend.
Fantasie und Beziehungshilfen auf der Lesebühne
Am Vorabend gab es noch zwei Lesungen: Markus Heitz stellte die Fortsetzung seiner Bestseller-Saga "Die Legenden der Albae - Dunkles Erbe" vor und Publikumsliebling Christian von Aster musste eigentlich gar nichts tun, um Applaus zu bekommen. Er las dann trotzdem noch seine Geschichten "Von Vergänglichkeit, Kaffeefahrten und Liebesbrieftauben". Dazwischen trat Kriminalpsychologin Lydia Benecke auf und erläuterte in einem Vortrag anhand des Märchens "Die Schöne und das Biest" und der Roman-Trilogie "50 Shades of Grey", woran sich dysfunktionale bis toxische Beziehungen erkennen lassen und wie die realistischen Verläufe solcher Beziehungen im echten Leben aussehen.
Lydia Benecke wollte es als ein Plädoyer für professionelle Hilfe verstanden wissen und als Hilfestellung in Fällen von Beziehungsgewalt: als Alternative zu märchenhaften Heilungsversuchen durch Zuschütten mit jungfräulicher Liebe. Ihr Vortrag wurde im Anschluss von den Gästen kontrovers diskutiert. Yuno assoziiert zum Thema toxische Beziehungen den Song "Demon Love" von ASP. Auf den Auftritt dieser Band freut sich Yuno besonders und findet: "Die Musik von ASP ist wie ein Strudel, der einen hineinzieht, wenn man sich einmal damit beschäftigt."
Wiedersehen und ganz besondere Vibes
Den Abend wollte ich gerade ausklingen lassen, lehnte am Eingang zum Hangar und von der Seite raunte mir jemand zu: "Und, wie geht's? Alles wieder total schön hier, nicht wahr? Du kommst hier an, bist in einer ganz anderen Welt und alles ist gut." Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen und nickte zustimmend. Meine Kollegin Svenja Estner hat es bereits letztes Jahr in ihrem ersten Blogbeitrag über das M'era Luna festgestellt: Dieses Festival ist das "Treffen einer großen Familie".
Der Zusammenhalt, die Akzeptanz und das Gemeinsamsein bringen hier auf dem Flugplatzgelände ganz besondere Vibes hervor. Heute, am Samstag, beginnen zudem die beiden Konzerttage mit Musik, die auch noch mal auf ganz besondere Weise zusammenbringt, berührt und bewegt. Ich gehe dem weiter nach und werde berichten.