M'era Luna: Erster Tag mit Panzertape und Funkenregen
Diese Musik bewegt - körperlich und emotional. Das ist definitiv eine der Geheimzutaten, warum die Festival-Community hier so glücklich ist, stellt Festival-Reporterin Jacqueline Moschkau fest.
"Der Vorhof zur Hölle" ist gut gefüllt mit wartenden Menschen. Noch unterhalten sie sich, schauen in verschiedene Himmelsrichtungen. Manche sitzen sichtbar erschöpft von der Hitze am Boden. "Der Vorhof zur Hölle" meint hier die Fläche vor der Main Stage auf dem M’era Luna Festival. Der Soundcheck ist durch. Das festivaleigene Radio "The Dark Wave of Life" auf 95,2 MHz überbrückt das Warten mit den Hits der vergangenen Jahre.
Doch dann: Die Musik verstummt. Das Dunkel der Nacht rahmt die Szenerie: Scheinwerfer tauchen die Bühne in magisches Violett. Die Gespräche verstummen und wie hypnotisiert starren tausende Menschen gebannt auf die Bühne, wo sich elf Menschen in Mönchskutten nebeneinander aufreihen. Die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen, beginnen sie chorisch zu singen. Vielleicht ist es Latein, vielleicht eine Fantasiesprache. Das ist egal: Die Zeremonie beginnt. Die Menge zuckt und wippt im Takt. Dann tritt ASP aus dem Hintergrund hervor: Ein Applaussturm tobt über das Gelände. Beginnen wir aber von vorn ...
Erster M'era Luna-Tag startet mit entspannten Rhythmen und Panzertape-Schuhen
Um elf Uhr morgens hat sich schon eine kleine Fangemeinde für die Gewinner des Newcomer Contests Re.Mind aus den Zelten geschält. Die Show ist ein sanftes Warm-up für den Tag, Körper wiegen sich entspannt zum ruhigen Rhythmus. Marko Bonew singt von "regret", vom Bereuen.
Ich bereue gerade, meine 25 Jahre alten Festivalstiefel noch mal angezogen zu haben. Ich verliere meine Schuhsohlen und muss den alten Panzertape-Trick anwenden, um alles zusammenzuhalten, und umwickle meine Füße mit Klebeband. Immerhin werde ich heute Meter machen zwischen Main Stage und Club Stage, Hangar und Backstage.
Hellboulevard bringt die Fans zum Tanzen
Auf der Club Stage sehe ich Rroyce. Die gehen schon mehr nach vorne. Auch das Festivalpublikum wird immer wacher und aktiver. Dazu passt dann auch ganz gut die Band Hellboulevard mit "She Just Wanna Dance" - denn tanzen, das wollen hier alle. Der EBM-Schwerpunkt im Line-up ist spürbar und sichtbar. Das Publikum ist erstmal vor allem schwarz gekleidet.
Interessanterweise zeigt sich das auch bei der Fashion-Show im Hangar am Nachmittag: Lack, Leder, Riemen und zum Schluss auch der bunt-schillernde Cyber-Gothic-Look bestimmen das Bild auf dem Laufsteg. Bis Fleurinna Wings Creation ihre Models rausschickt. Die Designerin Inna Dusdal kreiert ausladende Federkonstruktionen - Engelsflügel in schwarz, rot und weiß, opulent, variantenreich und eine absolut passende Metapher auf die Szene und die Musik.
Cassandra Complex - eine positive Überraschung
Engel oder Lucifer, Himmel oder Hölle: Alles liegt so nah beieinander. Die Band Schwarzer Engel singt von Endzeit und feuert schwarzes Konfetti aus riesigen Pumpguns in die Menge. Der Tod ist allgegenwärtig, aber weniger als Todessehnsucht oder Todesangst, mehr als philosophischer Gesprächspartner, der auf den Prüfstein legt, was wirklich wichtig ist im Leben. Wer urteilt über wen? Wer hat das Recht Gericht zu sein? Himmel und Hölle, gut und böse - es ist eine Frage nach Werten und Moral.
Das Spiel mit Stereotypen und Vorurteilen begleitet die Metal-Musik seit Ozzy Osbourne die Sache mit der Fledermaus abgezogen hat. Mystische Metaphern, Texte über Verschwörungstheorien ("Is Elvis dead?") markieren den Kern. Musikalisch überrascht mich die Band Cassandra Complex am Samstag am meisten - positiv. Die 80er-Jahre Synthies gehen ins Bein, alle wollen tanzen.
Deine Lakaien: Funke springt nicht über
Der 80er-Jahre-Vibe geht weiter: Deine Lakaien sind so lange im Geschäft, wie ich auf dieser Welt bin. Sie spielen Songs vom 1991 erschienenen Album "Dark Star" nicht als piano-basiertes Akustik-Set, sondern original. Synthesizer, verzerrte Keyboard-Sounds und Gesang - doch leider bleibt die Menge stumm, es funktioniert nicht. Einige wiegen sich wie weggetreten zur Musik. Es gibt Applaus, aber der Funke springt nicht über, es zündet nicht.
Das mag an der Sonne liegen, die Publikum und Musiker auch am späten Nachmittag noch unerbittlich brät. In dunkler Club-Atmosphäre im Hangar wäre das vielleicht anders gewesen - in Kirchen, Opernhäusern und Planetarien funktioniert es ja auch. Das kann aber auch an der Mischung der Fans liegen. Deine Lakaien sind die Schönbergs, Stockhausens und Cages unter den Goths (Werke mit präpariertem Klavier sind tatsächlich Teil ihres Œuvres).
Musik der Schwarzen Szene ist wie eine heftige, innige Umarmung
Musikmachen ist wie eine Unterhaltung. Eine Form der Kommunikation, ein Austausch zwischen den Akteur*innen auf der Bühne und dem Publikum. Und diese Unterhaltung wird hier auf dem M’era Luna, wie generell im Metal-Genre, laut geführt. Die Schlagzeugrhythmen, die Gitarrenriffs, der Gesang, der meist geschrien (Shouting) oder geknurrt (Growling) wird, kommt mit aller Wucht, um seine existenzielle Kraft zu entfalten. Dabei ist hören natürlich zunächst ein ganz feiner physischer Vorgang: Schallwellen, Flimmerhärchen, Trommelfell und so.
Aber die Energie, die diese Musik hier auf dem Festival entfaltet, reißt Publikum und Musiker*innen hinauf in höhere Sphären, in Trance. Diese Musik ist eine heftige, innige Umarmung, die emotional fokussiert. Man verwandelt sich förmlich und erlebt sich neu im Hier und Jetzt. Was eben war, ist egal. Was morgen kommt, ist egal. Die Erfahrung des Moments ist fundamental.
Letzter M'era Luna Auftritt von Front 242
Zudem ist alles eng und heiß und intensiv. Die Bassdrum rollt tief auf Eins und Drei, die Snaredrum schmettert oben drauf und die Hi-Hat setzt dazwischen - diese rhythmische Struktur energetisiert den ganzen Körper und setzt den Impuls sich bewegen zu wollen. Die Intensität dieser Erfahrung vor der Bühne verändert das physische Erleben und der erhöhte Herzschlag, die schnellere Atmung wiederum erhöhen die Wahrnehmung der Musik.
Theoretisch ist das die Erklärung, warum die Menge bei Front 242 plötzlich abgeht. Die Outfits, die persönliche Ansprache des Publikums durch Sänger Jean-Luc De Meyer und das Wissen der Fans: Es ist das letzte M’era Luna Festival für die Belgier, denn sie beenden dieses Jahr ihre Bühnenkarriere, so ist es angekündigt.
Bis zur Fassungslosigkeit gerührte Gesichter
Während der Alltag unserer Ellenbogengesellschaft in den letzten Jahren noch etwas distanzierter geworden ist, lassen sich die Festivalbesucher*innen hier im allumfassenden Sinne berühren: körperlich in der tobenden Menge vor den Bühnen und emotional durch die Musik - und beides zusammen bei den Meet-And-Greets mit ihren angebeteten Stars.
Das ist schon jetzt einer meiner Highlight-Momente des Wochenendes: Die hunderte Meter langen Schlangen all jener Fans, die darauf warten, Alexander Spreng von ASP "Hallo" sagen und die Hand schütteln zu können. Sowie ein Selfie machen und ein Autogramm ergattern zu können. Und dann sind da noch die bis zur Fassungslosigkeit gerührten Gesichter, die Freudentränen, die Begeisterung der Fans.
Show von ASP aus Feuer und Funkenregen
Die Gothic Novel Rock-Band ASP ist der Headliner am Samstag. Spreng selbst sagt zwar, sie seien so wenig Gothic wie die anderen Bands des restlichen Tages, doch nennt er sich zugleich "Fürst der Finsternis" und lässt sich von der Masse anbeten. Noch bevor das Konzert ganz vorbei ist, durchschreite ich diese Menge und erkenne: Bis hin zum großen Haupttor, bis in die wirklich allerletzte Reihe tanzen und klatschen die Menschen, sind gefesselt von einer Show aus Feuer und Funkenregen.
Während alle Instrumente auf der Bühne verzerrt und verfremdet sind, von Stimme über Drums bis Gitarren, feiert die Gemeinde unveränderte klassische Streichinstrumente auf faszinierend euphorische Weise - egal bei welcher Band. ASP haben als Überraschungsgast die Geigerin Shir-Ran Yinon dabei und halten einmal mehr, was sie versprechen: "Es werde Licht! Es werde Lärm!".