Vor 30 Jahren: Anschlag auf die Lübecker Synagoge
Vier junge Männer verüben am 25. März 1994 einen Brandanschlag auf die Lübecker Synagoge. Am Folgetag demonstrieren 4.000 Menschen in der Hansestadt unter dem Motto "Lübeck hält den Atem an".
Lübeck ist bekannt für seine malerische Altstadt, Backsteingebäude, das Holstentor und die Hanse. Doch in der Nacht zum 25. März 1994 löst ein Brandanschlag auf das jüdische Gotteshaus in der St.-Annen-Straße weltweites Entsetzen aus: "Lübeck wird als die Stadt in die Geschichte eingehen, in der zum ersten Mal nach 50 Jahren wieder eine Synagoge gebrannt hat", bringt Lübecks damaliger Bürgermeister Michael Bouteiller die historische Bedeutung der Tat auf den Punkt.
Brandgeruch in den Wohnungen über der Synagoge
Was ist geschehen? In der Nacht zum 25. März 1994 bemerken Mitglieder der jüdischen Familien, die in den Wohnungen über der Synagoge leben, gegen 2 Uhr starken Qualm und alarmieren die Feuerwehr. Die kann innerhalb weniger Minuten das Feuer löschen und so die Gefahr für die fünf anwesenden Bewohner abwenden. Bei dem Brand wird der Vorraum der Synagoge zerstört, auch wertvolle Dokumente nehmen Schaden.
Mahnwachen wegen "Wahnsinnstat"
Die Nachricht von dem Anschlag verbreitet sich rasch in Lübeck, Deutschland und der ganzen Welt. Die Solidarität ist groß: Rund 200 Lübecker Bürger versammeln sich am Abend zu einer Mahnwache vor der Synagoge, in der die jüdische Gemeinde das Passahfest feiert. Am Folgetag demonstrieren in der Hansestadt 4.000 Menschen unter dem Motto "Lübeck hält den Atem an" gegen den Brandanschlag. Auch in anderen deutschen Städten finden Mahnwachen statt. Bürgermeister Bouteiller und Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis sprechen von einer "Wahnsinnstat" und einer Gefahr für "die Glaubwürdigkeit unserer Demokratie".
Bubis beschuldigt DVU und Republikaner
Politiker aus Schleswig-Holstein und ganz Deutschland äußern sich entsetzt über die Tat, die in eine Zeit rechtsextremer Gewalttaten in Hoyerswerda (1991), Rostock-Lichtenhagen (1992), Mölln (1992) und Solingen (1993) sowie wachsenden Zuspruchs für rechtsradikale Gruppierungen fällt. Ignatz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, hält die Deutsche Volksunion (DVU) und die Republikaner für die "geistigen Brandstifter" des Übergriffs. Daraufhin bezeichnet Republikaner-Chef Franz Schönhuber Bubis als einen "der schlimmsten Volksverhetzer in Deutschland". Tatsächlich stellt der Verfassungsschutz in diesem Zeitraum eine systematische Kampagne der Republikaner gegen Juden fest.
Brandsatz führt auf die Spur der Täter
Die Polizei arbeitet mit Hochdruck daran, die Täter zu finden. Die Bundesanwaltschaft zieht die Ermittlungen an sich. Ein nicht gezündeter Brandsatz, der am Tatort vorgefunden wird, führt die Ermittler auf die Spur von vier jungen Männern aus dem rechtsradikalen Lübecker Milieu. Der Haftbefehl lautet auf versuchten fünffachen Mord und schwere Brandstiftung. Stephan W., Boris H.-M., Nico T. und Dirk B., zwischen 19 und 24 Jahre alt, stammen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Ihr Motiv für den Anschlag mit Molotowcocktails: eine allgemeine Ausländer- und Judenfeindlichkeit. Inwieweit sie in Kontakt zu rechtsradikalen Organisationen stehen, bleibt ungeklärt.
Gericht verhängt mehrjährige Haftstrafen
Der Prozess gegen die vier jungen Männer endet im April 1995 mit einer Verurteilung zu Haftstrafen zwischen zweieinhalb und viereinhalb Jahren wegen Beihilfe zur Brandstiftung und Brandstiftung. Nach Auffassung des Gerichts gibt es keine sichere Grundlage für eine weitergehende Verurteilung wegen versuchten Mordes, da die Angeklagten bestreiten, von den Wohnungen im Obergeschoss gewusst zu haben. Der Vorsitzende Richter Herrmann Ehrich stellt fest, dass einige der Angeklagten nicht einmal gewusst hätten, was eine Synagoge sei.
Serie von Anschlägen in Lübeck
Der antisemitische Anschlag von 1994 ist der Beginn einer Serie von Übergriffen in der Hansestadt, die zumindest einen rechtsextremen Hintergrund vermuten lassen. Der Lübecker Pastor Günter Harig äußert die Befürchtung, dass durch die Tat von 1994 ein Tabu gebrochen worden sei. In der Nacht auf den 8. Mai 1995 - den Gedenktag anlässlich des Kriegsendes vor 50 Jahren - gibt es erneut einen Brandanschlag auf die Synagoge, bei dem ein angrenzender Schuppen vollständig ausbrennt. Die Tat bleibt unaufgeklärt. Im selben Jahr verletzt eine Briefbombe - möglicherweise gesendet von österreichischen Rechtsextremen - im Rathaus den Geschäftsführer der SPD-Fraktion in der Lübecker Bürgerschaft schwer an der Hand. Adressiert war die Post an den stellvertretenden Bürgermeister Dietrich Szameit, der das Urteil gegen die Brandstifter von 1994 als zu milde bezeichnet hatte.
1996: Zehn Tote bei Brand in Asylbewerberheim
Für Entsetzen in Lübeck - und weltweite Berichterstattung in den Medien - sorgt am 18. Januar 1996 ein Feuer in einem Asylbewerberheim, bei dem zehn Menschen sterben. Schnell kommt der Verdacht auf, Rechtsextreme hätten einen Anschlag auf das Haus verübt. Doch die Hintergründe des Brandes sind bis heute unklar. Ein angeklagter Bewohner des Asylbewerberheims wird freigesprochen.
Drohungen gegen Pastor Harig und Günter Grass
Ab 1997 erscheinen zunächst Schmierereien rund um Lübecker Kirchen und Häuser von Kirchenmitgliedern, bevor im Mai die katholische St. Vicelinkirche durch Brandstiftung fast zerstört wird. Drohungen auf Hauswänden gegen Pastor Harig, der Migranten Kirchenasyl gewährt, sowie Günter Grass in Verbindung mit Hakenkreuzen folgen. Der Schriftsteller hatte die Verschärfung des Asylrechts stark kritisiert. Nicht nur in Lübeck, auch in Hamburg und Husum kommt es zu gewalttätigen Aktionen gegen Kirchen.
Aktionen für mehr Toleranz
Mit einer intensiven Jugend- und Sozialarbeit sowie mit Veranstaltungen für mehr Toleranz versucht die Stadt Lübeck ab Mitte der 1990er-Jahre, rechtsextremem Gedankengut vorzubeugen. Doch Aufmärsche und Übergriffe Rechtsradikaler gibt es weiterhin.
Synagoge wird rund um die Uhr bewacht
Die Folgen der beiden Brandanschläge spürt die Jüdische Gemeinde bis heute: Die Synagoge wird rund um die Uhr bewacht - wie die meisten anderen jüdischen Einrichtungen in Deutschland auch. Auf dem Gelände steht ein Container für Wachposten der Polizei. Ein großer Zaun mit Tor sichert das Areal zusätzlich ab.
Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am 27. Januar 2019, bei dem an den Lübecker Brandanschlag erinnert wird, mahnt Schleswig-Holsteins Landtagspräsident Klaus Schlie, aktuellen antisemitischen Tendenzen entschieden entgegenzutreten. "Es reicht nicht, kein Antisemit oder Rassist zu sein", sagt er.
2021 Wiedereröffnung nach Sanierung
Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Lübeck, Alexander Olschanski, erklärt damals, die große Empörung und die Solidarität der Lübecker mit der jüdischen Gemeinde nach dem Anschlag hätten ihm damals gezeigt, dass es kein Fehler gewesen sei, nach Deutschland zu ziehen. "Trotz mancher Schwierigkeiten ist Deutschland für die meisten von uns ein zweites Zuhause und für unsere Kinder und Enkelkinder eine echte Heimat geworden." Die Sanierung der Synagoge, die sechs Jahre dauerte, sei die beste Bestätigung für eine freie Religionsausübung.