Systemversagen: Eine Flugkatastrophe in der DDR
Es war eines der schwersten Flugzeugunglücke in der deutschen Geschichte: Am 12. Dezember 1986 stürzt eine Tupolew 134 A der sowjetischen Aeroflot beim Landeanflug auf Berlin-Schönefeld ab. An Bord ist damals auch eine Schweriner Schulklasse auf dem Rückweg von einer Reise nach Minsk. 20 Schüler einer 10. Klasse der Ernst-Schneller-Schule sowie drei ihrer Begleiter überleben das Unglück nicht. Insgesamt sterben 72 Menschen, nur zehn überleben das Unglück.
Bis heute sind viele Fragen offen
Frank Scheffka hat bei dem Unglück seinen jüngeren Bruder André verloren. Er sah ihn noch kurz vor der Katastrophe in Minsk, wo er seinen Bruder während der Klassenfahrt besuchte. "Andre war damals gerade verliebt", erinnert sich Scheffka. Geblieben ist ihm nur die Erinnerung und eine Tonscherbe, die er viel später am Absturzort fand, sowie viele offene Fragen.
Die Katastrophe passt nicht in das Selbstverständnis der DDR-Führung. Schon mit der ersten Meldung über den Absturz wird die Maschinerie der Stasi in Gang gesetzt. Kritik an der Sowjetunion soll unterbunden werden. "Unverzüglich" werden Maßnahmen "zur Verfolgung und Einschätzung der Reaktion der Bevölkerung auf den Absturz" ergriffen. Den Angehörigen werden Antworten verweigert, der Zugang zur Absturzstelle verwehrt.
"Man hätte einiges sicherstellen können. Man hatte gar nichts mehr, an das man sich klammern konnte", so Scheffka, der die Tonscherbe bis heute aufbewahrt. Ihn beschäftigt vor allem die Frage, ob sein Bruder beim Aufprall gestorben ist oder qualvoll verbrannte. "Wir wussten nicht einmal, was genau im Grab meines Bruders war. Man hatte plötzlich gar nichts mehr von ihm", so Scheffka.
Stasi setzt Angehörige unter Druck
In der Schweriner Außenstelle der Stasiunterlagenbehörde sucht Frank Scheffka nach Antworten. Dort lagern über 10.000 Seiten Papier zu dem Flugzeugabsturz von 1986. Die Akten dokumentieren die menschenverachtende Katastrophenbewältigung der DDR. Sie zeigen: Der Staatssicherheit ging es im Auftrag der SED vor allem darum, dass sich die Tragödien in den Familien hinter verschlossen Türen abspielten. Offizielle und inoffizielle Mitarbeiter beginnen noch in der Unglücksnacht mit der "Betreuung" der geschockten Angehörigen, bringen Überlebende, Hinterbliebene und Journalisten "auf Kurs". Um Kritik an der Sowjetunion im Vorfeld zu verhindern, stehen die Familien ab sofort unter verschärfter Beobachtung.
Bei der Trauerfeier sitzen Funktionäre in der ersten Reihe
Die Gedenkfeier in Schwerin gerät zum gesteuerten Schaulaufen der SED: Noch vor den Familien sitzen Funktionäre. Jugendliche in FDJ-Hemden sind aus anderen Schulen herangefahren worden, Freunden und Mitschülern wird der Zutritt zur Halle untersagt, darunter auch Christian Marin, der bei der Katastrophe drei seiner Kameraden aus der Handball-Mannschaft verlor. "Wir waren wirklich empört darüber. Wir gehörten da hin, das waren unsere Jungs, unsere Mannschaft". Seit der ersten Klasse hatte er mit ihnen Handball gespielt. "Das war wie eine Familie", erinnert er sich.
Viele Zeitzeugen schwiegen mehr als drei Jahrzehnte über die Folgen des Unglücks. Und über das Systemversagen des Staates, dem der Glaube an den Sieg des Sozialismus wichtiger war als die Trauer der Angehörigen.