Winter 1945: Hunderttausende flüchten über die Ostsee
Nach der Offensive der Roten Armee im Januar 1945 ist Ostpreußen abgeschnitten. Die Menschen können nur noch über die Ostsee fliehen. Eine einmalige Rettungsaktion beginnt.
Auf breiter Front überschreitet die sowjetische Armee im Januar 1945 die deutschen Grenzen im Osten. Die abgekämpften deutschen Truppen, unter ihnen Jugendliche und alte Männer, haben dem Ansturm nichts entgegenzusetzen. Aus Angst vor Vergeltung für den Vernichtungskrieg der Wehrmacht begeben sich Hunderttausende Menschen in Ostpreußen, aber auch in Pommern und Schlesien auf die Flucht. Manche reisen sofort mit dem noch planmäßig verkehrenden Schnellzug ab, andere warten bis zum letzten Augenblick, auch, weil die NS-Behörden eine Flucht anfangs verbieten.
Nach wenigen Tagen ist der Fluchtweg abgeschnitten
Überstürzt müssen die Menschen nun ihre Bauernhöfe und Gutshäuser verlassen. Sie fahren zumeist in Trecks mit hochbeladenen Planwagen und Schlitten oder gehen zu Fuß. Denn in Ostpreußen liegt hoher Schnee in diesen Januartagen. Das Thermometer fällt bis auf 25 Grad unter Null. Viele sterben unterwegs an Entkräftung. Vor allem kleine Kinder erfrieren bei den eisigen Temperaturen.
Schon nach zehn Tagen haben sowjetischen Panzer, die überraschend aus dem südliche Ostpreußen vorgestoßen sind, bei Elbing die Küste erreicht - wenige Kilometer vor Danzig. Dadurch ist der Fluchtweg nach Westen abgeschnitten.
Karte: Über diese Orte versuchten die Menschen zu flüchten
Der Hafen von Pillau wird zur letzten Rettung
Der einzige Ausweg ist nun die weiter nördlich gelegene Strecke Richtung Ostsee, nach Königsberg, der Provinzhauptstadt, und weiter nach Pillau (heute Baltjisk). Der kleine Ort verfügt über zahlreiche Hafenbecken und liegt 50 Kilometer westlich an der Einfahrt ins Frische Haff.
Dort beginnt in den letzten Januartagen die umfangreichste Rettungsaktion von Menschen über See aller Zeiten. Die Marine hat den Auftrag bekommen, die Soldaten der U-Bootschule auf Schiffen nach Westen abzutransportieren. Sie nehmen auch erste Zivilisten mit, Frauen mit kleinen Kindern und Schwangere. Immer mehr Menschen fliehen nun nach Pillau. Der kleine Ort mit seinen 12.000 Einwohnern ist bald überfüllt. Nicht alle der zeitweise bis zu 75.000 hungernden und frierenden Flüchtlinge können in Turnhallen, Kasernen, Kirchen oder Privatwohnungen untergebracht werden. Viele müssen im Freien übernachten. Vor den wenigen Bäckereien kämpfen die Menschen schon frühmorgens um Brot. Auf dem Friedhof werden die Toten im Freien um die Leichenhalle aufgeschichtet.
Ab dem 25. Januar laufen Schiffe ein, um Flüchtlinge aufzunehmen, Minensucher, Torpedoboote, Kreuzer, Schlepper, Eisbrecher, Fischdampfer, Kohlenfrachter und Kreuzfahrtschiffe. Nachdem die ersten Transporte noch geordnet ablaufen, Flüchtlinge in Listen erfasst und Schiffskarten ausgegeben werden, stehen die Menschen bald zu Tausenden am Hafen und warten auf Schiffe, oft tagelang. Andere setzen hier mit Fähren auf die Frische Nehrung über, einen schmalen Landstreifen zwischen Ostsee und Haff, der noch nicht von den Sowjets eingenommen ist und in Richtung Danzig und Pommern nach Westen führt.
Ansturm auf die wenigen Schiffe
Die Soldaten der Roten Armee sind nicht mehr weit entfernt, besetzen für einige Tage die Straße nach Königsberg, wo viele Bewohner den Ernst der Lage noch nicht erkannt haben und Kinder im Garten Schneemänner bauen. Zur gleichen Zeit versuchen die Menschen in Pillau immer wieder verzweifelt, die wenigen ankommenden Schiffe zu stürmen. Im Gedränge stürzen viele zu Boden, andere trampeln über sie hinweg. Kinder werden von ihren Müttern getrennt.
Soldaten versuchen den Andrang aufzuhalten. Sowjetische Flieger kreisen über der Stadt und bombardieren den Hafen. Dort bleiben Fahrzeuge aller Art zurück: Autos, Kutschen, Fuhrwerke, leere Kinderwagen, aber auch Pferde und Hunde. Im Wasser treiben große Koffer und Taschen. Bis Mitte Februar werden über den Pillauer Hafen mehr als 200.000 Menschen abtransportiert, 50.000 Flüchtlinge setzen hier zur Frischen Nehrung über. Oft bleibt der Schiffsraum aber auch dem Abtransport von Soldaten, Waffen und Militärfahrzeugen vorbehalten.
An Deck stehen die Menschen dichtgedrängt
Die Schiffe fahren von Pillau häufig im Geleitzug. Kriegsschiffe sollen sie gegen Angriffe sowjetischer U-Boote und Flieger schützen. Auf den Frachtern sind die Laderäume mit Stroh ausgelegt. Sie sind ebenso mit Flüchtlingen und verwundeten Soldaten überfüllt wie die Kabinen der Passagierschiffe. Und an Deck stehen oft Hunderte Menschen dichtgedrängt, weil kein Platz ist, um sich hinzusetzen. Manchmal gibt es eine dünne Erbsensuppe, oft muss auch der Schnee an Deck als Trinkwasser dienen. Aber die Flüchtlinge sind froh, entkommen zu sein. Dass ein ums andere Mal auf der Brücke U-Boot-Alarm gegeben wird, wissen sie nicht.
Der Untergang der "Wilhelm Gustloff"
Ziel ist zumeist Swinemünde auf Usedom. Von dort geht es mit dem Zug weiter, auch über See nach Flensburg, Lübeck oder Kiel. Oft landen die Schiffe ihre Fracht aber auch nur im bald von den Sowjets eingekesselten Danzig oder Gdingen (Gotenhafen) an, wo sich ebenfalls die Menschen zu Zehntausenden drängen und darauf warten, dass sie ein anderes Schiff nach Westen bringt.
Am 30. Januar sticht hier der Passagierdampfer "Wilhelm Gustloff" in See. Die Zahl der Flüchtlinge an Bord ist bis heute umstritten. Vielleicht waren es 6.000 Menschen, andere Quellen sprechen von 10.000. Wenige Stunden nach seiner Abfahrt wird das ehemalige Kreuzfahrtschiff der NS-Organisation "Kraft-durch-Freude" vor der Küste Pommerns von einem sowjetischen U-Boot torpediert. Das Schiff sinkt innerhalb einer Stunde. Nur etwa 1.200 Menschen können gerettet werden.
Immer wieder laufen Flüchtlingsschiffe auf Minen, werden von sowjetischen U-Booten oder Flugzeugen versenkt. Noch Mitte April geht der torpedierte Frachter "Goya" nach wenigen Minuten unter, von den schätzungsweise 7.000 Menschen an Bord werden nur wenige gerettet. Fast zur gleichen Zeit transportiert die SS über 3.000 Häftlinge des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig auf Schuten und Kähnen nach Neustadt in Holstein ab.
Manche Schiffe steuern Kopenhagen an
Die Evakuierung Ostpreußens, Danzigs und Pommerns über See geht bis Kriegsende unvermindert weiter. Gdingen fällt Ende März in sowjetische Hand, Königsberg kapituliert erst am 9. April. Etwa 75.000 Menschen leben zu dieser Zeit noch in den Trümmern der Stadt. Aber nach Pillau kommen weiterhin Schiffe, die von hier aus jetzt auch Häfen auf der anderen Seite der Ostsee ansteuern, im neutralen Schweden, vor allem aber Kopenhagen, das noch immer von der Wehrmacht besetzt ist. Hier herrscht scheinbar Frieden. Gut gekleidete Menschen gehen zur Arbeit, in den Geschäften gibt es alles zu kaufen. Und die Flüchtlinge haben oft nichts als ihr Leben gerettet.
Die letzten Schiffe verlassen Pillau um den 23. April. Wie viele Flüchtlinge zurückbleiben, ist unbekannt. Wenige Tage später besetzen sowjetische Soldaten die Stadt nach schweren Kämpfen. Insgesamt sind von hier zwischen Januar und April 1945 rund 450.000 Flüchtlinge mit Schiffen abtransportiert worden. Die Halbinsel Hela vor Danzig, von der auch nach der Einnahme der Hansestadt im März noch Zehntausende Flüchtlinge gerettet werden, bleibt noch bis zur Kapitulation in deutscher Hand.
Schleswig-Holstein wird zum Flüchtlingsland
An der Rettungsaktion über die Ostsee waren mehrere Hundert Schiffe beteiligt. Wie viele Menschen über den Seeweg gerettet wurden, ist bis heute ungeklärt. Die Zahlen schwanken zwischen 800.000 und 2,5 Millionen. Mehr als 20.000 Menschen starben bei Schiffsuntergängen. In Ostpreußen, Danzig und Pommern bleiben allerdings mindestens drei Millionen Menschen zurück, geraten unter sowjetische Herrschaft. Die meisten von ihnen werden bis Ende der 1940er-Jahre aus ihrer Heimat vertrieben.
Ein Großteil der Ostdeutschen bleibt in Schleswig-Holstein, das in der späteren Bundesrepublik mit einer Million aufgenommener Menschen zum Land mit den meisten Flüchtlingen wird. In manchen Städten und Dörfern verdoppelt sich die Einwohnerzahl. 1948 sind 40 Prozent der Lübecker Bevölkerung Flüchtlinge. Sie leben oft in Notunterkünften und Sammellagern, von denen es Anfang der 50er-Jahre noch mehr als 700 im ganzen Land gibt. Erst mit den Jahren gelingt den regierenden Politikern die Integration, nicht selten gegen Widerstände der Einheinmischen, die sich noch lange vor Überfremdung und Verdrängung fürchten.