Es war einmal ... Die Sesamstraße
Seit 50 Jahren schauen Kinder in Deutschland die Sesamstraße. Dabei war der Anfang alles andere als märchenhaft. Ein Kommentar.
Es war einmal, vor langer langer Zeit, da lebte ein öffentlich-rechtliches Kinderfernsehen glücklich und in Frieden und ganz für sich. Weit und breit gab es kein Pro Sieben und kein Super RTL, keine Bohlens, keine Klums und keine Bertelsmänner. Das böse Internet war auch noch nicht erfunden. Und so saßen vor den Bildschirmen unverdorbene Kinder, die glaubten an Lassie und Fury, den Hasen Cäsar und Klaus Havenstein.
Eines kalten Wintertags, es war im Januar 1973, geschah es nun, dass vom Westen her über das Meer eine große Bilderflut heraufzog, und die Erwachsenen fürchteten Unheil. In Bayern wurden eilig Dämme errichtet gegen die Verderbtheit, die ausgerechnet der Norddeutsche Rundfunk bedenkenlos über die Kleinsten hereinbrechen ließ. Ungewaschene Kinder zeigte er her und wildgewordene Puppen, die einen ganzen Straßenzug in eine rechtsfreie Zone verwandelten. Es waren die schlimmsten Subjekte darunter:
Ein pöbelnder Penner, der in einer Mülltonne hauste.
Ein ungekämmter Mundräuber und Keksklauer.
Ein Junganarchist, der mit Quietscheente und krächzigem Lachen seinen eierköpfigen Mitbewohner in den Wahnsinn trieb.
Und der Schlimmste: ein penetranter Frosch, der unter dem Decknamen Kermit obstinate Reden schwang und zu allem Unglück gern aus vollem Halse sang, laut und respektlos.
Gegen jeden Widerstand schließen Kinder Sesamstraße ins Herz
Da erhob sich im ganzen Lande Widerstand gegen die Kinderverderber von NDR und ARD, und alle trachteten wortreich, dem hässlichen Spuk ein schnelles Ende zu machen. Die Rechten im Kampf gegen Syph und Schmutz aus Amerika. Die Linken wegen der reaktionären Rollenmuster. Den Pädagogen war das Bombardement mit Buchstaben und Zahlen ein Graus. Und die Puristen wussten ohnehin: Fernsehen ist von Übel.
Nur die Kinder wurden nicht gefragt. Was taten die zum Entsetzen der Großen? Sie schlossen die saufrechen Puppen einfach ins Herz und ließen sich die Sesamstraße nicht mehr nehmen.
Erfolgsgeschichte ist noch lange nicht zu Ende
Schuld am Erfolg der Reihe in Deutschland hat eine unerschrockene Kinderredaktion beim NDR, die das Projekt nun seit 50 Jahren (für die ARD) begleitet und reichlich kreative Anarchie beisteuert. Auch eigene starke Figuren, allen voran Wolle und Pferd ("Eine Möhre für zwei"). Zeugen in den USA wollen gesehen haben, wie die Erfinder der "Sesame Street" darüber vor Neid erblassten.
Tja, mit der Sesamstraße ist es eben wie im Märchen. Kinder sind treu und belastbar und sie folgen ihrer Sesamstraße überallhin, da kann sich der NDR noch so verrückte Sendezeiten überlegen. Sechs Uhr am Morgen ist doch gar nicht mal so schlecht. Drei Uhr nachts wäre schlechter.
Sowieso können Sendetermine im Fernsehen Kindern mittlerweile egal sein. Längst klicken sich Hunderttausende im Netz zur Sesamstraße - wann immer sie wollen. Diese Erfolgsgeschichte ist noch lange nicht zu Ende. In 50 Jahren wird wieder einer im Radio zum Geburtstag gratulieren und der Sesamstraße bescheinigen: Weil sie nicht gestorben ist, gibt es sie noch heute.