Thrillerdrama "Armand": Lehrer und Eltern in der Zwickmühle
Immer wieder wird im Kino die Schule zum Schauplatz gemacht, weil sich hier so gut gesellschaftliche Entwicklungen zeigen lassen. Der norwegische Film "Armand" bewegt sich an der Grenze zwischen Psycho-Drama und Satire.
Von einer Szene steht jetzt schon fest, dass sie in die Kinogeschichte eingehen wird: Hauptdarstellerin Renate Reinsve legt in "Armand" den längsten, deplatziertesten, unangenehmsten Lachanfall aller Zeiten hin.
Eine harmlose Situation eskaliert
Zunächst aber wird sie als Mutter in die Grundschule zitiert. Was genau zwischen ihrem Sohn Armand und seinem Mitschüler Jon vorgefallen ist, weiß auch das Lehrerkollegium nicht so genau. Nur, dass es Gesprächsbedarf gibt. Der Schulleiter lässt die junge Klassenlehrerin mit dem Fall allein. Bald darauf kündigen knallende Highheels auf halligem Schulflur den Auftritt von Elisabeth an. Armands Mutter ist eine bekannte Schauspielerin, alleinerziehend - und schon diese Schritte klingen nach einem energischen und reizbaren Temperament.
Dann betreten die Eltern der Gegenpartei das Klassenzimmer und bezichtigen den sechsjährigen Armand eines sexuellen Übergriffs an ihrem Sohn. Oder werden hier nur kindliche Doktorspiele aufgebauscht? Spätestens jetzt erscheint es grob fahrlässig, die Gesprächsleitung einer hilflos, herumdrucksenden Lehrerin zu überlassen. Elisabeth ist fassungslos, und die Situation eskaliert.
Ernstfall oder Fehlalarm?
Der norwegische Regisseur Halfdan Ullman Tøndel, Jahrgang 1990 und der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar Bergman, liebt das Spiel mit der Uneindeutigkeit. Permanent balanciert er in seinem ersten Langfilm auf schwer definierbaren Grenzen - zwischen Spiel und Gewalt, Fakt und Übertreibung. Ist es ein Ernstfall oder Fehlalarm - wie der grundlos schrillende, weil kaputte Feuermelder der Schule suggeriert?
Die proklamierten Schulwerte von Toleranz und friedlicher Konfliktbewältigung fliegen dem Lehrpersonal jedenfalls um die Ohren. Wo alle immer in Watte gepackt werden sollen, kann nämlich nicht Tacheles geredet werden. Und unter dem sensitiven Sprachgebrauch brodelt ohnehin eine toxische Suppe aus Vorurteilen, Eifersucht und Bosheit.
Renate Reinsve überschreitet Grenzen
Was in Wahrheit zwischen den Kindern passiert ist, ist gar nicht entscheidend. Der Film ist eher eine Charakterstudie der Erwachsenen. Ihre als Sorge um die Kinder getarnte Rivalität gipfelt dann in diesem bizarren Lachanfall von Renate Reinsve, der nahtlos in Schluchzen übergeht. Als "Der schlimmste Mensch der Welt" bekam die Norwegerin 2021 in Cannes den Darsteller-Preis. In "Armand" zeigt sie nun erneut, dass sie bereit ist, schauspielerisch Grenzen zu überschreiten. "Auch für mich war es wirklich herausfordernd, nicht zu wissen, wann meine Figur ehrlich und wann manipulativ ist. Um das wahrhaftig spielen zu können, musste ich all diese Regungen irgendwo in mir selbst finden. Das war wirklich sehr heftig. Und ich habe nach den Drehtagen lange gebraucht, wieder meinen Frieden zu finden", berichtet Reinsve.
"Armand", in Cannes als bester Debütfilm ausgezeichnet, ist ein Schul-Kammerspiel an der Grenze zwischen Psycho-Drama und Satire, am Ende mit surrealer Tanzeinlage auf dem Schulflur. Kein Wohlfühl-Kino jedenfalls - da wandelt der Enkel ganz auf den Spuren seines Großvaters Ingmar Bergman.
Armand
- Genre:
- Drama, Thriller
- Produktionsjahr:
- 2024
- Produktionsland:
- Norwegen, Niederlande, Deutschland, Schweden
- Zusatzinfo:
- Mit Renate Reinsve, Ellen Dorrit Petersen, Endre Hellestveit und anderen
- Regie:
- Halfdan Ullmann Tøndel
- Länge:
- 116 Minuten
- FSK:
- ab 12 Jahren
- Kinostart:
- 16. Januar 2024