"The Outrun": Nora Fingscheidt über Eisschwimmen mit Robben
Die Braunschweigerin Nora Fingscheidt und die Schauspielerin Saoirse Ronan erzählen, wie die Natur die Dreharbeiten zum Drama "The Outrun" auf den Orkneys beeinflusst hat. Ein Film über eine Frau, die ihre Alkoholsucht überwindet - mit schottischer Mythen über Selkies.
Nach "Systemsprenger" und "The Unforgivable" spielt in Nora Fingscheidts neuem Drama erneut eine einzigartige Frau die Hauptrolle, die gegen die Normen der Gesellschaft kämpft. Ihre Heldinnen sind "alles Menschen, die mit ihren inneren Dämonen zu kämpfen haben und sich irgendwo am Rande der Gesellschaft begeben. Also es gibt selten den Kampf von dem guten Helden oder der guten Heldin gegen das äußere Böse, sondern es ist immer die Auseinandersetzung mit sich selber", sagt Fingscheidt im Gespräch mit NDR Kultur. Der Film "The Outrun" basiert auf der Biografie der auf den Orkneys aufgewachsenen Autorin Amy Liptrot, die in jungen Jahren ihre Alkoholsucht überwindet.
Nora Fingscheidt über ihren Erfolg: "Wow, ist das real?"
Seit ihrem weltweiten Erfolg mit dem Drama "Systemsprenger" mit Helena Zengel hat die Regisseurin und Drehbuchautorin Fingscheidt kaum aufgehört zu arbeiten - und sogar mit Sandra Bullock in Hollywood gedreht. "Wir haben alle so profitieren dürfen von der Geschichte, die 'Systemsprenger' dann gegangen ist. Da muss man sich schon manchmal zwicken und sich fragen, wow ist das wirklich real?", erzählt die Filmemacherin. "Auch in Momenten, wenn der Job anstrengend wird und ich mir denke, ich würde gern etwas anderes machen, ist es auch wichtig, einen Schritt zurückzutreten und zu sagen, 'ich kann ziemlich dankbar sein."
Vor wenigen Wochen hat die 41-jährige Braunschweigerin ihr drittes Kind bekommen - und ihr neuer Film läuft im Kino an. Das Drama "The Outrun" beruht auf den realen Erfahrungen der schottischen Autorin Amy Liptrot, die sie in ihrem Buch "Nachtlichter" festgehalten hat. Im Buch, wie im Film, geht es um die Alkoholexzesse der jungen Frau Rona - und um ihren Heilungsprozess danach. Dafür hat Nora Fingscheidt mit der Schauspielerin Saoirse Ronan ("Little Women", "Lady Bird") auf dem Orkneys im hohen Norden Schottlands gedreht.
"Wir haben versucht, sowohl den Absturz als auch die Heilung so nah wie möglich aus Ronas Perspektive zu erzählen. Das heiß, wie erinnert man sich an Alkoholexzesse? Fragmentarisch, verschwommen, verzerrt, in Bruchstücken?. Das wollten wir eben mit ihr möglichst körperlich und aber auch audiovisuell gestalten. Das heißt, wenn sie kaputt geht, geht auch der Ton kaputt", erklärt die Regisseurin.
Raues Klima und Jahreszeiten haben Dreharbeiten auf Orkneys beeinflusst
Das Drehbuch hat Fingscheidt gemeinsam mit Liptrot verfasst. Das raue Klima, die Jahreszeiten und der Wind gaben die Reihenfolge der Dreharbeiten auf den Inseln vor: "Wir mussten im April hin, wenn die Lämmer geboren werden, wir mussten im Juni hin, wenn die Vögel nisten, im September, wenn die Robben da sind und nochmal im Winter, wenn es schneit. Eine Linearität der Dreharbeiten war nicht möglich - aber eine Symbiose mit der Natur."
Das Team hat an den Original-Orten der Orkneys gedreht, wo die Buchautorin aufgewachsen ist – und ihre Familie noch lebt, die jetzt sehr stolz auf die Tochter ist. Jeder in Orkney kenne inzwischen Familie Liptrot, meint Fingscheidt. "Mir war es wichtig, dass, wenn der Film im Kino läuft, die ganze Familie noch erhobenen Hauptes durch ihren Ort laufen und stolz auf diesen Film sein kann, weil es auch eine Geschichte des Erfolgs und der Heilung und der Hoffnung ist. Und deshalb haben auch Amys Eltern beide das Drehbuch gelesen, bevor wir überhaupt in Dreh gegangen sind. Sie haben beide den Film gesehen, bevor er fertig war."
Selkie-Mythologie: Menschen werden zu Seehunden
Die Atmosphäre des Filmes lebt auch vom Schwimmen mit den Robben im Ozean, die von schottischen Mythen umrankt sind. "Wenn man zum Beispiel um die kleine Insel Papa Westray läuft, was ungefähr vier Stunden dauert, dann verfolgen einen die Seehunde meistens um die ganze Insel, weil die so neugierig sind und gucken immer aus dem Wasser raus." Man könne verstehen, wie sich über Jahrhunderte diese Erzählungen gebildet hätten, dass "die Menschen, die vom Wasser nicht zurückgekommen sind, zu Seehunden wurden". In den Legenden heißen diese Robben Selkies.
Saoirse nominiert bei den Gotham Awards
Mit dieser Mythologie ist auch die US-Amerikanerin und Irin Saoirse Ronan aufgewachsen - die Selkie-Mythen gibt es auch in Irland. Ronan bringt fast zwei Jahrzehnte Erfahrung vor Film- und Fernsehkameras mit. Sie hat in ihrer Karriere bereits vier Oscarnominierungen erhalten, sagt aber "Ich bin kein Hollywood-Star". Am liebsten will sie selbst in Zukunft einmal Regie führen. In "The Outrun" spielt sie mit unter die Haut gehender Intensität, wie Rona mit ihren inneren Dämonen kämpft und siegt. Für diese Rolle war Ronan vor wenigen Tagen nominiert als beste Hauptdarstellerin bei den US-Independentpreisen Gotham Awards.
Es wird keine Sekunde langweilig, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Vögel im Naturschutzgebiet beobachtet, ihre Wut in die einsame Weite herausschreit, wie sie Lämmer zur Welt bringen hilft und wie sie im Ozean schwimmt. Fingscheidt inszeniert sie dabei, wie sie den Wind mit ihren erhobenen Armen dirigiert, als sei sie ein Zauberlehrling.
Wobei ihr eine Sache dann doch schwer gefallen an Nora Fingscheidts Set: "Ich bin im eiskalten Wasser aufgewachsen und habe in irischen Flüssen Schwimmen gelernt. Eisschwimmen ist meine Art von 'Droge', das könnte ich den ganzen Tag lang machen. Wahrscheinlich war es meine größte Schauspielleistung im Film, so zu tun, als sei mir beim Schwimmen im Ozean kalt", erzählt sie lachend.