Nora Fingscheidt: Filmemacherin mit "Vorliebe für Antihelden"
Die Filmemacherin Nora Fingscheidt ("Systemsprenger") erzählt im Gespräch über ihren liebsten Coming-of-Age-Film, ihre norddeutschen Wurzeln, Schwimmen mit Robben und ihr neues Drama "Outrun" mit Saoirse Ronan.
Im Frühjahr 2023 hat Nora Fingscheidt in Berlin 40. Geburtstag gefeiert. Zu der Zeit saß die gebürtige Braunschweigerin am Schnitt ihres neuen Filmes "The Outrun", für den sie das Drehbuch gemeinsam mit der Autorin der Romanvorlage, Amy Liptrot, geschrieben hat. Bei der kürzlich beendeten Berlinale hat die "Systemsprenger"-Regisseurin und Mutter zweier Söhne in der Berlinale-Retrospektive einen für sie prägenden Coming-of-Age Film persönlich vorgestellt: "Und täglich grüßt das Murmeltier" von Harold Ramis aus dem Jahr 1993 mit Andie MacDowell und Bill Murray.
Frau Fingscheidt, warum war "Und täglich grüßt das Murmeltier" mit Bill Murray als Griesgram, der täglich denselben Tag erlebt, so prägend für Sie?
Nora Fingscheidt: Den habe ich ausgesucht, weil es für mich ein filmisches Coming-of-Age-Erlebnis war, als ich den gesehen habe. Da war ich acht oder neun und habe zum ersten Mal so richtig das Gefühl gehabt: "Was ist, wenn der heutige Tag morgen wieder von vorne anfängt?"
Angeregt durch den Film haben mich diese philosophischen Gedanken - "Was würde ich dann überhaupt machen wollen?" und "Was wäre dann wichtig?" - lange beschäftigt. Da habe ich zum ersten Mal erlebt, was Kino für einen Eingriff ins Leben haben und wie befruchtend und inspirierend dies sein kann. Ich finde, auch wenn man ihn heute mit einem gewissen Abstand sehen und unter dem Zahn der Zeit betrachten muss, ist "Und täglich grüßt das Murmeltier" einfach ein großartiger Film, der es schafft, philosophische Fragen anzuregen und trotzdem unterhaltsam zu sein.
Es könnte fast ein wenig als Horrorfilm durchgehen, täglich denselben Alltag zu erleben!
Fingscheidt: Oder auch als Liebesfilm. Er wird so düster und bleibt dabei so lustig. Das finde ich irre, wie der Film schafft, das zu kombinieren. Damals ist jedenfalls meine Liebe fürs Filmemachen und mit Sicherheit auch für Antihelden entfacht worden.
Und das Erwachsenwerden wäre hier, dass die Figur des Reporters Bill Murray lernt, freundlicher zu seiner Umwelt zu werden und so die Wiederholung zu durchbrechen?
Fingscheidt: Phil als Hauptfigur hat auf jeden Fall die Züge eines Jugendlichen, der sich alleine und missverstanden fühlt und nur umgeben von Idioten ist.
Sie haben ihre Filmkarriere an der selbstorganisierten Filmschule filmArche in Berlin begonnen und dort erste Kurzfilme gedreht. Später Szenische Regie an der Filmakademie Baden-Württemberg gelernt und sind mit Ihrem prämierten Berlinale-Film "Systemsprenger" von 2019 weltweit auf Festivals gereist. Der Film wurde in vielen Ländern gezeigt. Danach kam die Netflix-Produktion "The Unforgivable" mit Sandra Bullock in Los Angeles und dann ein Experimentalfilm für Arte. Was für ein Projekt war das?
Fingscheidt: Das war ein Experimental-Kurzfilmprojekt aus Frankreich unter dem Titel "H 24" für Arte. Da ging es darum, Texte von Autorinnen in Bilder zu übersetzen, also mit einem literarischen Monolog vor der Kamera zu arbeiten, mit nur einer Schauspielerin. Das war in diesem Fall Diane Kruger. Die Vorgabe war, nur um die drei Minuten zu drehen. Der Monolog stammt von der Autorin Angela Lehner aus Österreich, die schon zwei Romane geschrieben hat. Es war ein feministisches Projekt, das 24 Stunden im Leben von Frauen in Europa widerspiegelt.
Nun haben Sie "The Outrun" mit der vierfach oscarnominierten Schauspielerin Saoirse Ronan abgedreht. Was können Sie über den Film erzählen, den Sie auf den Orkney-Inseln gedreht haben?
Fingscheidt: Die Indie-Koproduktion haben wir letzten Sommer in England und Schottland gedreht. Das Drehbuch habe ich von einem Roman von Amy Liptrot gemeinsam mit ihr adaptiert. Es geht um die Geschichte einer jungen Frau, die sich von ihrer Alkoholsucht heilt, um Recovery im hohen Norden auf den Orkney-Inseln. Das ist ein autobiografischer Roman, er heißt auf Deutsch "Nachtlichter".
Die Dreharbeiten haben großen Spaß gemacht, wir haben an den Originalorten ihrer Kindheit gedreht: in dem kleinen Häuschen, wo sie auf der einsamen Insel zwei Jahre überwintert hat, und wir waren schwimmen mit den Seehunden.
Wie war die Zusammenarbeit mit der irisch-US-amerikanischen Schauspielerin Saoirse Ronan in der Hauptrolle?
Fingscheidt: Sie ist eine unglaublich talentierte, intelligente, lustige und liebenswerte junge Frau. Das hat wahnsinnigen Spaß gemacht, mit ihr zu arbeiten.
Sie haben als junge Frau in Argentinien gelebt, in Los Angeles, in Berlin und Ludwigsburg. Inwiefern hat der Norden - Braunschweig, wo Sie zur Schule gegangen sind, und Hamburg, wo sie auch gelebt haben, Ihr Filmemachen beeinflusst?
Fingscheidt: Das ist schwer zu sagen, das kann man, glaube ich, von außen besser beurteilen, als von innen. Es steckt natürlich tief in mir drin, da bin ich aufgewachsen. Mein Vater ist Hamburger, da haben wir auch später ein paar Jahre lang gewohnt. Mein großer Sohn, den ich noch während des Studiums bekommen habe, hat dort mit der Schule angefangen. Das ist mir schon sehr vertraut und findet sich wieder in der Kargheit der Natur in den Orkney-Inseln.
Da ist es zwar dramatischer mit den Klippen, aber ansonsten flach, ohne Bäume. "Systemsprenger" spielt in Hannover. Aber ich muss schon sagen, mich persönlich zieht es gerade in wärmere Gefilde. Ich habe gern in Süddeutschland gelebt und in Kalifornien.
Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur, im Februar 2023.
Seit Dezember 2023 ist bekannt, dass "The Outrun" im Januar 2024 beim US-Independentfilmfestival Sundance laufen wird - und in der Sektion Panorama der nächsten Berlinale. Die MOIN Filmförderung hat die internationale Koproduktion mit 150.000 Euro unterstützt, in Hamburg fand ein Teil des Schnitts und der Postproduktion statt. Zu den Produzenten gehören etwa BBC Film, Screen Scotland und die norddeutsche Produktionsfirma Weydemann Bros. ("Systemprenger").