Edward Berger: "Großes Zeichen der Kleingeistigkeit"
Edward Berger hat mit vier Oscars für "Im Westen nichts Neues" Filmgeschichte geschrieben. Auch beim Deutschen Filmpreis ist sein Film mit zwölf Nominierungen der große Favorit. Weil Filme wie Christian Petzolds "Roter Himmel" nicht nominiert sind, kritisiert er im NDR Interview das Auswahlverfahren.
Am Freitag werden im Berlinale-Palast in Berlin die Goldenen und die Silbernen Lolas der Deutschen Filmakademie verliehen. Für zwölf Lolas ist Edward Bergers Anti-Kriegs-Drama "Im Westen nichts Neues" nominiert.
In der Kategorie bester Spielfilm konkurriert Bergers Drama mit Filmen wie "Das Lehrerzimmer", "Holy Spider", "Rheingold" und "Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war". Im Vorfeld der Deutschen-Filmpreis-Gala hat Edward Berger mit NDR Kultur gesprochen: über die historische Oscar-Preisverleihung, die spannend war wie ein Krimi, über eine unvergessliche Begegnung mit Steven Spielberg, über die Bedeutung des Deutschen Filmpreises - und seine Kritik am Auswahlverfahren. Zudem erzählt er von seinem neuen, bereits abgedrehten Film "Conclave".
Wie ist es Ihnen seit den Oscars ergangen?
Edward Berger: Ich hatte im Grunde nicht wahnsinnig viel Zeit, das alles zu verdauen. Ich sitze jetzt im Schnitt und bin schnell zur Tagesordnung übergegangen.
Diese Preisverleihung in Hollywood war historisch mit neun Nominierungen für "Im Westen nichts Neues". Kein deutscher Film war jemals so oft nominiert, davor war Wolfgang Petersens "Das Boot" mehrfach für Oscars nominiert. Sie waren bei vielen Branchenterminen vor Ort, haben Kulturstaatsministerin Claudia Roth in Los Angeles getroffen, hatten viele Leute Ihrer Crew dabei, weil die unterschiedlichen Gewerke nominiert waren. Was nehmen Sie von dieser Zeit mit? Von den Gesprächen dort?
Berger: Dieses unglaublich beschwingende Gefühl. Mit was für ausgebreiteten Armen wir empfangen worden sind, mit was für großen Herzen. Mit was für einem Interesse: Warum wir diesen Filmen gemacht haben, wie wir diesen Film gemacht haben? Die Menschen dort haben uns an ihrer unendlichen Liebe und Hingabe für Filme teilhaben lassen. Das nehme ich für viele Jahre mit. Es ist sehr inspirierend.
Soweit ich gelesen habe, ist "Im Westen nichts Neues" nach Angaben von Netflix der dritt- oder vierterfolgreichste nicht englischsprachige Film aller Zeiten auf der Plattform. Er ist also von vielen Menschen gesehen worden. Was sind Sie bei all den Preisverleihungen in den Gesprächen gefragt worden? War das Interesse eher an der Geschichte aus dem Ersten Weltkrieg oder an den technischen Dingen?
Berger: Übrigens der Film ist geklettert, er ist mittlerweile der zweiterfolgreichste Film bei Netflix. Durch die Oscars vielleicht sogar bereits der erste. Da möchte ich gerne noch hin (lacht).
Die Fragen in Amerika und England beziehen sich eher auf die Geschichte und auf die Haltung des Films. Das Interesse daran ist groß, dass die Geschichte aus der Perspektive der Verlierer erzählt worden ist. Man geht im Gegensatz zu einem angelsächsischen Film nicht mit breiten Schultern aus dem Kino, sondern ist eigentlich nur niedergeschlagen, niedergedrückt von der vermeintlichen Realität des Krieges, wie wir sie interpretiert haben. Ich fand sehr schön, dass das die Menschen interessiert hat. Die Technik fanden sie beeindruckend, sie spielte aber eigentlich eine eher untergeordnete Rolle.
Nun war Steven Spielberg auch bei Hollywood-Terminen und bei der Oscar-Gala mit Ihnen im Raum, denn er war mehrfach nominiert für seinen autobiografisch geprägten Film "The Fabelmans". Gab es auch eine Begegnung mit ihm?
Berger: Da gab es zwei ganz großartige Begegnungen. Und zwar saß ich beim Essen, ich glaube mit ihm und sieben weiteren RegisseurInnen, neben ihm am Tisch. Ich habe ihn lange ausgefragt und ihm erzählt, dass wir "Saving Private Ryan" so häufig geschaut haben, um daraus zu lernen. Und er sagte mir, dass er das auch mit unserem Film getan hat.
Irgendwann hat er das Gespräch geöffnet und hat uns alle gefragt, warum wir unsere Filme gemacht haben. Was war der entscheidende Grund? Bei mir war es ganz klar unsere Geschichte, die in Bezug auf die Weltkriege ein ganz anderes Gefühl hinterlässt als die amerikanische Historie. Ich habe ihm gesagt, dass ich mir wünsche, dass unsere Filme im Dialog zueinander stehen und sich womöglich sogar gegenseitig ergänzen. Er ist ein unheimlich zurückhaltender, charmanter netter, bescheidener, lustiger Kerl, dem es einfach nur um die Arbeit geht, um nichts anderes.
Dann hatte ich eine zweite Begegnung interessanter Art am Abend der Oscar-Verleihung selbst. Wir haben niemals gedacht, dass wir Chancen auf den Best Picture Oscar hätten. Aber dann hatten wir einerseits die Gewinne der Baftas, der britischen Filmpreise, im Rücken. Und weiterhin gab es einige Kritiker, die vorhersagten, dass die Academy ziemlich alt sei und Hauptkonkurrent "Everything Everywhere All at Once" nicht jedem gefallen werde.
Das war das Wort auf der Straße. Obendrein fing der Abend ein bisschen so an wie die Baftas. Wir gewannen fast jeden Oscar, für den wir nominiert waren. Und plötzlich kippte die Stimmung im Saal. Man spürte das regelrecht. Das Team von "Everything" wurde nervös. Wir hatten plötzlich vier Preise gewonnen, mehr als sie selbst. Sie hatten ja schon eine - ich übertreibe - Niederlage bei den Baftas in den Knochen, wo sie nur einen Preis bekommen hatten und wir sieben. Schließlich kam ich von der Bühne zurück mit meinem Oscar für "Best International Picture" in der Hand. Steven Spielberg saß ein paar Reihen vor mir. Er fing mich ab und sagte: "You're going to have to go up there again" - du musst da noch einmal hoch. Er stellte mich seiner Frau vor, und ich war ein wenig überwältigt und dachte "Oh Gott, was ist, wenn das stimmt?" Auch die Mitarbeiter von Netflix kamen zu mir und flüsterten "Das läuft ja einmalig gut". Man spürte ein ganz starkes Selbstvertrauen unter den ZuschauerInnen. Nur mein Produzent Malte Grunert ließ sich nicht anstecken, behielt einen kühlen Kopf und damit auch Recht.
Schließlich kam der Oscar für die beste Regie und den besten Schnitt, und damit war klar, dass das Team von "Everything" auch den Rest des Abends für sich entscheiden würde. Es war ein kurzer illusorischer Traum mit einer großartigen Dramaturgie. Ich werde es nie vergessen.
Jetzt kommen Sie nach Hause nach Berlin - mit zwölf Lola-Nominierungen beim Deutschen Filmpreis für "Im Westen nichts Neues". Was bedeutet Ihnen der Deutsche Filmpreis?
Berger: Oh, sehr viel. Ich war schon einmal für den Filmpreis nominiert, bei dem wir für unseren Film "Jack" eine silberne Lola gewinnen konnten. Das war ein ganz besonderer Abend und ein großartiges Erlebnis. Mich freut das wahnsinnig, dass die Mitstreiterinnen und Kolleginnen unseren Film hier so wahrgenommen haben. Es bedeutet mir sehr viel, dass ich nach Hause kommen und hier noch einmal mit allen feiern kann.
Der Smoking, den Sie sich für die Oscar-Gala haben schneidern lassen, wird also erneut Einsatz finden?
Berger: Den ziehe ich unbedingt wieder an. Es wird die nächsten 20 Jahre der gleiche bleiben.
Beim Deutschen Filmpreis gibt es am Auswahlverfahren laute Kritik, weil zum Beispiel Filme wie "Roter Himmel" von Christian Petzold nicht nominiert sind, nicht einmal in der Vorauswahl stand. Die Lolas sind dotiert - im Unterschied zum Beispiel mit den Césars in Frankreich, den Goyas in Spanien und sogar den undotierten Oscars. Was halten Sie von dieser Kritik?
Berger: Berechtigt. Die Kritik kommt seit vielen Jahren regelmäßig wieder. Da müssen wir doch irgendwann zuhören, uns dieser Kritik stellen und vor allen Dingen die Regularien verändern. Es kann nicht sein, dass wir einen Film nicht auswählen, der auf der Berlinale im Wettbewerb läuft und dort einen Silbernen Bären gewinnt. Das ist ein großes Zeichen der Kleingeistigkeit, das den Filmpreis schwächt.
Wenn dieser Filmpreis seine Bedeutung behalten soll, dann müssen wir die Vorauswahl-Jury abschaffen. In Jurys entfalten sich immer wieder Dynamiken, die zu Kompromissen führen und in der Folge Filme durchfallen lassen. Warum entledigen wir uns nicht dieses ganzen Problems, indem wir die Jury durch eine ehrliche Wahl der MitgliederInnen ersetzen? Dann ist die Akademie in diesem Bereich nicht mehr angreifbar.
Lasst uns die Wähler entscheiden lassen, so wie in jedem anderen Land. Ich weiß nicht, warum uns dieses Umdenken so schwer fällt? Die Bedenken, dass nicht alle Mitglieder alle Filme schauen, kann ich nicht teilen. Die guten Filme, auch die kleinen, werden sich durchsetzen, das tun sie immer. Das hat sehr wenig mit der Sichtbarkeit oder dem Marketingbudget zu tun. Die hervorragenden Filme, die Filme, die die Menschen interessieren und berühren, finden ihr Publikum und damit auch die Wähler. Da bin ich mir sicher. Es spricht sich immer herum. Hohe Marketingbudgets kreieren keine Zuschauer-Hits, sondern Zeitgeist und Qualität.
Werden wir Ihren neuen Film "Conclave" nach dem Thriller von Robert Harris mit Ralph Fiennes, Stanley Tucci und Isabella Rossellini noch dieses Jahr im Kino sehen?
Berger: Ich sitze zur Zeit in London im Schnitt. Es wird also noch eine Weile dauern. Nächste Woche schaue ich ihn mir zum ersten Mal an, und wenn ich Glück habe und ganz zufrieden bin, was ich stark bezweifle, dann kann es sein, dass wir es bis zu einem der Herbstfestivals schaffen. Und wenn nicht, dann kommt er im Frühjahr ins Kino.
Eine letzte Frage zum Erich-Maria-Remarque-Friedenszentrum: Gibt es da jetzt noch mal einen großen Empfang? Oder tragen Sie sich im Goldenen Buch der Stadt Osnabrück ein?
Berger: Ich bin immer wieder im Austausch mit der Stadt. Wir versuchen, einen Termin zu finden, an dem ich endlich hinfahren kann. Irgendwann im Sommer wird es sicherlich klappen.
Das Gespräch führte Patricia Batlle, NDR Kultur