"Der Deutsche Filmpreis ist der deutschen Filmbranche unwürdig"

Stand: 12.05.2023 07:55 Uhr

Christian Petzolds Film "Roter Himmel" hat auf der Berlinale den Großen Preis der Jury gewonnen und wurde von der internationalen Kritik gefeiert. Der Film ist aber nicht für den Deutschen Filmpreis nominiert - das sorgte in den Medien für heftige Kritik.

Die Filmkritikerin Katja Nicodemus im Gespräch mit NDR Kultur Redakteur Joachim Dicks © NDR Online Foto: Yvonne Szallies
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Die Filmkritikerin Katja Nicodemus kritisiert im Interview das Preisvergabe-System der Deutschen Filmakademie und bedauert, dass Filme wie "Roter Himmel" nicht nominiert werden.

Dass "Roter Himmel" nicht nominiert wurde, da könnte man doch auch von Pech sprechen, bei einer Preisauswahl kann das auch mal passieren, oder?

Katja Nicodemus: Warum die Aufregung jetzt so groß ist, liegt, glaube ich, daran, dass diese Nichtnominierung von Petzolds Film der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Die Kritik am Vergabeprozess und an der Ausrichtung des Deutschen Filmpreises ist ja nicht neu. Es wurde immer wieder kritisiert, dass hier drei Millionen Euro von einem Verein verteilt werden und dass eine Branche den Kuchen unter sich selbst aufteilt. Denn das heißt, dass die 2.200 Mitglieder der Filmakademie per Mehrheitsentscheidung über die Gewinner entschieden. Dabei kann man im Laufe der Jahre feststellen, dass Filme von Nichtmitgliedern der Akademie immer wieder benachteiligt und übergangen werden. Ob ein Film in die Vorauswahl kommt oder nicht, das entscheidet eine 19-köpfige Jury, und dass dieser Petzold-Film "Roter Himmel" jetzt nicht dabei ist, spricht nicht für den Sachverstand dieser Nominierungsjury. Es geht also hier nicht nur um Ruhm und Ehre, es geht um Geld.

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"Der Filmpreis ist peinlich." Das habe ich gestern als Artikelüberschrift in der "Süddeutschen Zeitung" gelesen. Findest Du das auch?

Nicodemus: Ich finde schon, dass der Filmpreis, so wie er seit 2005 von der Deutschen Filmakademie vergeben und organisiert wird, der deutschen Filmbranche unwürdig ist. Denn in keiner anderen deutschen Branche werden kulturelle Subventionsmillionen unter sich selbst aufgeteilt. Natürlich beschäftigen die großen Filmfirmen mehr von diesen 2.200 Mitgliedern als zum Beispiel eine kleine Firma - und da stimme ich doch als Mitglied eher für meinen Brotgeber ab oder für den großen Film, an dem ich beteiligt war. Ich will ja weiter Aufträge kriegen als Akademiemitglied, als Schauspieler. Es ist ganz natürlich, dass der kleinste gemeinsame Nenner gewinnt, und das ist meistens dann so ein nicht allzu sehr aneckendes Mittelmaß.

Ich finde übrigens, wir müssen uns gar nicht nur auf den Petzold-Film fixieren: Ich finde auch skandalös, dass der Film "Der vermessene Mensch" von Lars Kraume es nicht einmal in die Vorauswahl geschafft hat von diesen 32 Spielfilmen. Das ist der erste deutsche Kinospielfilm, der sich mit den deutschen Kolonialismus-Verbrechen auseinandersetzt. Ein harter, ein erschütternder Film, erzählt aus dem Zentrum einer aufgeladenen Kolonialismusdebatte. Aber so etwas hat eben in der Filmakademie keine Lobby, und das ist unwürdig.

Wie kann man denn dieses rein abstimmungstechnische Problem bei Wettbewerben und Jurys umgehen?

Nicodemus: Wir haben es hier nicht mit einem bösen System zu tun, obwohl das System natürlich böse Folgen hat für die Menschen, die von den Preismillionen ausgeschlossen sind. Es geht hier um eine Viertelmillion Euro für eine Nominierung, und wenn man einen Hauptpreis gewinnt, um eine Dreiviertelmillion Euro. Das ist einfach verdammt viel Geld. Was man machen könnte oder müsste: Man entkoppelt die rund drei Millionen Subventionsgelder vom Deutschen Filmpreis, und dann geht es eben nur um die Ehre. Oder man schafft die Vor-Jurys und die Mehrheitsentscheidung ab, dieses pseudodemokratische Ausmendeln in einer Wohlfühlzone. Dann würde man ganz andere Jurys brauchen, mit Schriftstellern, mit Künstlerininnen, mit Essayistinnen, mit Leuten, die Kunstverstand haben, aber nicht in der Branche verbandelt sind. Dann gäbe es nicht diese Eigeninteressen und diese seltsamen Entscheidungen.

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Andererseits gibt es auch herausragende Filme, die gewonnen haben, "Toni Erdmann" zum Beispiel. Sind das die positiven Ausnahmen von der schlechten Regel?

Nicodemus: Ja, genau. Es sind ja nicht 2.200 böse oder neidische Menschen. "Toni Erdmann" war 2016 als hyperintelligente Generationenkomödie wirklich mehrheitsfähig. Ansonsten aber schließen diese Mehrheitsentscheidungen radikale, avantgardistische Werke aus. Das betrifft die sehr mutigen, randständigen Filme genauso wie die sehr populären Mainstream-Filme. Denn bevor die Deutsche Filmakademie diesen Preis übernommen hat, konnte zum Beispiel auch mal ein historischer Entertainment-Film wie Joseph Vilsmaiers "Comedian Harmonists" gewinnen oder ein ganz radikaler Interview-Film über einen Serienmörder wie Romuald Karmakars "Der Totmacher" mit Götz George. Das war alles möglich, und das geht jetzt nicht mehr. Wir verbauen also den Zugang zu den Preismillionen für populäre Filme und auch für sehr mutige Filme.

Wie sieht es denn bei den Filmakademien und den Filmpreisen bei unseren europäischen Nachbarn aus?

Nicodemus: Der Unterschied ist ganz klar: Bei unseren Nachbarn verteilen die Filmakademien die Preise, aber nicht das Geld. Die britischen Baftas, die spanischen Goyas oder die französischen Césaren - diese Filmpreise sind undotiert, wie die Oscars übrigens auch. Es geht um Ruhm und Ehre und nicht um Geld.

Denn ein Film, der einen Preis gewinnt, spielt in der Regel auch mehr ein. Dann könnte man das Preisgeld auch weglassen, oder?

Nicodemus: Ja. Das sind aber immerhin drei Millionen kulturelle Subventionen, die kann man auch anders verteilen. Man könnte zum Beispiel Regiedebüts aussuchen, und man lässt diese Preisvergabe eben Glamour, Ruhm, Ehre und Anerkennung sein.

Was müsste man noch ändern bei der Deutschen Filmakademie? Wie könnte der Preis gerechter, besser, mutiger vergeben werden?

Nicodemus: Ich glaube, Heiner Müller hat mal gesagt: "Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche." Das betrifft nicht nur Deutsche. Über Kunst muss man diskutieren und streiten, und dann kann auch mal eine ganz überraschende Entscheidung hervorkommen. Deswegen muss man diese Mehrheitsprinzip abschaffen und interessante Jurys einsetzen, die die Filme im Kino sehen und sich darüber streiten.

Das Interview führte Mischa Kreiskott.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 20.04.2023 | 17:30 Uhr

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