Schroth schreibt mit "Faust" Theatergeschichte in Schwerin
1979 wurde Goethes "Faust" in Schwerin uraufgeführt. Niemand ahnte, dass die Inszenierung ein Stück Theatergeschichte werden sollte. Nach 106 Aufführungen fiel 1989 der letzte Vorhang. Für Regisseur Christoph Schroth eine der "aufregendsten Theaterproduktionen" seines Lebens.
Gerade einmal neun Aufführungen waren 1979 geplant: Neunmal "Faust". Goethes Klassiker mit beiden Teilen an einem Abend, dann hätten wohl alle, die wollten und sollten, das Stück gesehen - so jedenfalls die Planungen von Theaterregisseur Christoph Schroth. Danach könne sich das Mecklenburgische Staatstheater in Schwerin neuen Inszenierungen widmen.
"Zügig, flott, laut und kräftig"
Der letzte Vorhang fiel dann fast zehn Jahre nach der Premiere, nach mehr als 100 Vorstellungen. Nach einem Erfolg, wie ihn Schwerin davor und auch danach nicht wieder sah - dieser "Faust" wurde tatsächlich eine "Entdeckung". Unter diesem Motto nahmen sich die Schweriner Theatermacher den Klassiker vor, entstaubten ihn, ließen den Mephisto von einer Frau und den Faust gleich von vier Männern darstellen. Ein Abenteuer, sagt Horst Kotterba, der zweite, der junge Faust, im Gespräch mit NDR 1 Radio MV: "Faust mit beiden Teilen an einem Abend zu sehen und das noch zu verstehen, keine Chance einzuschlafen, es war zügig, flott, laut und kräftig".
Gegen den Widerstand der Funktionäre
Dass diese Aufführung solch ein außergewöhnliches Echo beim Publikum hervorrief, war vor der Premiere im September 1979 natürlich nicht vorhersehbar. "Faust in Schwerin? Beide Teile? Das wird nichts, lieber Herr Schroth, lassen sie die Finger davon", erinnert sich Schauspieler Ekkehard Hahn an Gespräche mit dem Regisseur. Christoph Schroth ließ aber nicht davon ab und setzte seine Ideen und die seiner Dramaturgen durch, nicht zuletzt gegen den Widerstand der Schweriner SED-Funktionäre, die wiederum ihre Vorstellung von einem vorbildhaften, nicht zu kritisierenden "Faust" in Gefahr sahen. Eine extra eingesetzte Expertenkommission gab schließlich grünes Licht.
"Hingeschnodderte" Textprobe gefällt dem Regisseur
Allerdings musste Regisseur Christoph Schroth auch sein Ensemble überreden. Bärbel Röhl wollte das Gretchen nicht spielen, ebenso wenig wie Lore Tappe den Mephisto. Schroth setzte sich durch, überzeugte seine Darsteller - wer sagt eigentlich, dass Mephisto ein Mann ist? - und fand die hingeschnodderte Textprobe des Gretchens gerade überzeugend und aktuell. Peer Jäger musste wenige Wochen vor der Premiere als dritter Faust einspringen, weil der ursprünglich vorgesehene Darsteller die Rolle nicht meisterte.
Sechs Stunden Theater - überzeugend und fesselnd
Die Inszenierung überzeugte: Ein geradezu herausgebrüllter Osterspaziergang des ersten Faust Wolf-Dieter-Lingk, ein schelmischer weiblicher Mephisto mit Melone, Weste und Schal und das Trinkgelage in Auerbachs Keller mit politischen Anspielungen. Der junge, draufgängerische Faust und Walpurgisnächte voller Lust fesselten das Publikum - trotz der zunächst sechsstündigen Aufführung. "Wenn uns die Leute die Hütte einrennen, blieb uns eben nichts anderes übrig, es so lange zu spielen, bis keiner mehr kommt", blickt Schauspieler Wolf-Dieter Lingk zurück.
Die Zuschauer kamen nicht nur aus der ganzen DDR, sondern auch aus der damaligen Bundesrepublik. So hatte Bärbel Röhl sogar einen Verehrer aus Hamburg. "Er hat mir immer zu meinem Geburtstag von der Blumenhandlung Faust einen Blumenstrauß geschenkt. Und daraus ist eine langjährige Freundschaft geworden", erzählt sie im Interview.
Das Ensemble spielt und spielt und spielt
"Faust" mit einem schwangeren Gretchen, bis der Babybauch nicht mehr zu verstecken war und stattdessen ein Gretchen aus Finnland zweimal einsprang und das wie selbstverständlich in finnischer Sprache. "Faust" vor SED-Politbüromitglied Kurt Hager, der bei einem Schwerin-Besuch kurzfristig nach gerade diesem Stück verlangte, obwohl es gar nicht auf dem Spielplan stand und dann in der "Fürstenloge" eben wie ein SED-Fürst residierte. "Faust" in Saarbrücken, auf Wunsch des damaligen Ministerpräsidenten Oscar Lafontaine, allerdings ohne den zweiten Faust-Darsteller Horst Kotterba, den die SED-Oberen als unsicheren Reisekader einstuften. "Faust" zum 99. Mal ohne den dritten Faust-Darsteller Peer Jäger, den sein Leipziger Kabarett-Intendant unbedingt in der Messestadt auf der Bühne sehen wollte, weil sich Kabarett-Kollegen aus München angekündigt hatten (Jägers Rolle übernahm kurzfristig mit Buch in der Hand Hans-Peter Minetti).
- Teil 1: "Zügig, flott, laut und kräftig"
- Teil 2: Kaiser wechselte, Faust blieb