Sonja Anders: Was kann Theater in schwierigen Zeiten leisten?
Welche gesellschaftspolitischen Themen werden verhandelt? Mit welchen Formen wird auf der Bühne experimentiert? Ein Essay von Theaterintendantin Sonja Anders vom Schauspiel Hannover.
Ungerechtigkeit wird heute vermehrt als schmerzvolle Erfahrung beschrieben. Dabei legen unterschiedliche Akteure sie nahezu entgegengesetzt aus, manchmal vereinfacht und oft mit einer gehörigen Portion Hass versetzt. Ohne Zweifel stoßen unsere Wirtschafts- und Weltordnung, unsere Umwelt und die Politik derzeit an Grenzen und stellen die Demokratie vor große Aufgaben. Umso wichtiger ist es, differenziert und aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf unsere Welt und den Menschen zu schauen.
Gerechtigkeit als Kernpunkt des Theaters
Gerechtigkeit ist schon immer ein vieldeutiger Begriff und zentraler Kernpunkt des Theaters. Wir wollen in diesem Möglichkeitsraum - im Spiel auf der Bühne - mit dem Publikum über Stücke, Stadt und Welt in Kontakt kommen, wollen über Fragen des Miteinanders diskutieren und hoffentlich das Lachen dabei nicht verlieren. Irgendwo zwischen Freiheit und Verantwortung bewegt sich das Theater und erzeugt Geschichten, die uns staunen lassen:
Richard III., der sich als ungerecht behandelt fühlt, erweist sich als Meister des Kalküls und der Gewalt, so wie auch Biedermanns perfide Brandstifter. Mit diesen machtbewussten Charakteren beginnt die Spielzeit 2023/24. "Der kleine Prinz" dagegen sucht aus einem menschenfernen Blickwinkel einen anderen Zugang zu Gerechtigkeit und bietet einen fantastischen Hoffnungsvorrat für eine friedvolle Zukunft.
Uraufführung von Friedmans Buch "Fremd"
Michel Friedman hat uns die Uraufführung seines Buches "Fremd" anvertraut. Er schreibt über seine persönlichen Lebenserfahrungen: Als Kind Holocaust-Überlebender wird er das Gefühl des Fremdseins in Deutschland nicht los. Neben der Trauer über eine Welt versperrter Zugehörigkeit bietet sein Text auch den Trost der Liebe und Hoffnung an.
Formate zum Austausch mit Zuschauenden
Neben vielen weiteren Dramen auf der Bühne möchten wir in unterschiedlichen Formaten mit den Zuschauenden diskutieren. Sascha Chaimowicz, Chefredakteur des "Zeit-Magazins", fragt in der Reihe "Wir müssen reden" prominente Gäste danach, in was für einem Land wir eigentlich leben. In den "Universen" laden wir die Stadt ein, Hannover neu und aus unterschiedlichen Perspektiven kennenzulernen und gemeinsam zu feiern.
Seit Jahrtausenden bespielt das Theater die Erkenntnis, dass es keine einfachen Lösungen für komplexe Probleme gibt. Zu vielschichtig ist der Mensch in seinem Fühlen und Handeln, zu verführbar und fragil. Für eine offene und machtkritische Gesellschaft braucht es viele Denkende und Handelnde, die einander in Gemeinsamkeit und Diversität zuhören.
Anders: Theater soll andere Haltungen zulassen
Im Theater haben wir jeden Abend eine faktische Gemeinschaft - bestehend aus Theaterschaffenden und dem Publikum. Sie treffen aufeinander und erleben etwas miteinander, was sie bewegt und im besten Falle verändert. Es sind Gefühle, die die Gegenwart aufschlüsseln, es sind Haltungen, die sich neu austarieren können, es sind neue und andere Gedanken als die, mit denen man den Saal betreten hat - und wenn sie zünden, ist das viel. Solche Momente wünsche ich mir für die kommende Spielzeit. Ich bin mir sicher, es wird sie geben.
"Klarer sehen, tiefer fühlen, mutiger handeln", so beschreibt der Philosoph Cornel West die Aufgabenstellung für unsere Zeit. Der Blick, mit dem wir etwas betrachten, die Tiefe, mit der wir fühlen, und der Wille, mit dem wir handeln, sind für ihn Wegpunkte einer grundlegenden gesellschaftlichen Solidarität.