"Seinetwegen": Autofiktionaler Roman auf der Spur des Vaters
Die Schweizer Schriftstllerin Zora del Buono verlor ihren Vater durch einen Autounfall als sie acht Monate alt war. In ihrem Roman "Seinetwegen" sucht sie nach ihrem Vater, nach Antworten darauf, wie und wer er war - und nach dem Unfallverursacher.
Zora del Buono ist Architektin und Journalistin. Mitte der 90er-Jahre hat sie das Meeres-Magazin "mare" mitgegründet und war bis 2008 auch stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift. Seitdem schreibt sie außer Reportagen auch Reiseerzählungen und Romane. Zuletzt erschien 2020 "Die Marschallin". Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Großeltern, die sich als glühende Anhänger Titos ins Slowenien kennenlernten, dann in Italien eine großbürgerliche Existenz führten und gegen Mussolinis Faschismus Widerstand leisteten. Nun ist Zora del Buonos Roman "Seinetwegen" erschienen.
Wie findet man nach sechzig Jahren den Töter seines Vaters? Nicht den "Täter" oder "Mörder", den "Töter".
Nachschlagen, ob es das Wort eigentlich gibt (von Mörder zu reden ist schlicht falsch und Unfallverursacher klingt so technisch). Im Duden steht bei "Häufigkeit": "selten". (...) Der Online-Duden führt auch die fünf Wörter im Alphabet vor und nach dem Töter auf. Davor: Totenvogel, Totenwache, Totenwäsche, Totenwäscherin, Toter." Danach: "Töterin, Toterklärter, Toterklärte, Totes Meer, totfahren." Leseprobe
Auf der Suche nach Antworten in den "Vater-Unterlagen"
Totgefahren wurde Dr. med. Manfredi del Buono am 18. August 1963. Der 33 Jahre alte Radiologe am Kantonsspital in Zürich hinterließ seine Frau und die acht Monate alte Tochter Zora. Obwohl der "Töter" zu schnell unterwegs gewesen, und mit seinem Chevrolet in einem waghalsigen Überholmanöver in den entgegenkommenden VW Käfer gekracht war, kam er mit einer Geldstrafe davon. Der Onkel, der den lindgrünen Volkswagen steuerte, hatte überlebt. Der Vater, den Zora del Buono nur von Fotos kennt, saß auf dem Beifahrersitz und starb im Krankenhaus. Von ihm bleibt ihr nur die Kiste mit den "Vater-Unterlagen".
In der Todesanzeige der Familie gibt es einen Satz, der mich besonders rührt: Das hoffnungsvolle Leben eines großen Menschenfreundes ist erloschen. Leseprobe
60 Jahre später stellt sich die Tochter Fragen:
Was war eigentlich Vaters letzter gesprochener Satz? Was sein letztes Wort? Haben er und der Onkel sich munter unterhalten, als es geschah, vielleicht über Fußball oder Jazz oder Autos oder einen Stier auf der Weide? Leseprobe
Rückzug in sachliche Textpassagen
Vor allem quält sie, wer der Mann war, der ihren Vater auf dem Gewissen hat. Haben ihn Schuldgefühle geplagt? Die Suche nach dem "Töter", ein Mann mit den Initialen "E.T.", wird in diesem autofiktionalen Roman zur emotionalen Achterbahnfahrt. Um sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen, bremst sich Zora del Buono deswegen beim Schreiben immer wieder aus, indem sie sich in rational beschreibende Textpassagen flüchtet, lexikalische Definitionen aneinanderreiht oder Unfallstatistiken auflistet.
Prominente Opfer des Straßenverkehrs (eine Auswahl): Günter Amendt, Rolf-Dieter Brinkmann, Jean Bugatti, Albert Camus, James Dean, Diana Princess of Wales, Isadora Duncan, Falco, Grace Kelly, Margaret Mitchell, Helmut Newton, Jackson Pollock, W.G. Sebald.
Ergreifend
Wir lesen Erinnerungsfetzen aus del Buonos Studentenleben im wilden Westen des Vorwende-Berlins und protokollartige Abschnitte, in denen sie sich mit Freunden über Verluste, Ängste und Hoffnungen austauscht. Stilistisch schöpft Zora del Buono für ihren Rechercheroman aus dem großen Baukasten. Sie scheut sich auch nicht, im Zusammenhang mit der Wunde, die der Verlust des Vaters hinterlassen hat, einen übersinnlichen Moment zu beschreiben.
Und dann geschieht es, auf dieser Lichtung, wo endlich Himmel sichtbar ist, ein dunkler Himmel, der für einen Moment aufreißt, grell wird, ich spüre eine Stimme, es ist nicht so, dass ich sie höre, ich spüre sie, es ist die Stimme meines Vaters, den ich nicht kannte, der im Auto starb, als ich kein Jahr alt war, den ich nie vermisste, eben weil ich ihn nie kannte, dieser Mann ist hier, er ist bei mir, er ist der Wald (...) er ist mein Beschützer, ich bin er. Leseprobe
Es geht um große Lebensfragen, ums Verzichten und Verzeihen. Und immer wieder um das "Was nun?". Was also wird, wenn sie "E.T." tatsächlich finden sollte? "Seinetwegen" wird so nicht nur zu einer großen existentiellen Reise, an der Zora del Buono uns teilhaben lässt. Sie beweist, wie aus einem eigentlich intimen Vorgang, ihrer zutiefst persönlichen Spurensuche, ergreifende Literatur werden kann.
Seinetwegen
- Seitenzahl:
- 204 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- C.H. Beck
- Bestellnummer:
- 978-3-406-82240-7
- Preis:
- 23 €