Cover: Zora del Buono, "Seinetwegen“ © C.H. Beck
Cover: Zora del Buono, "Seinetwegen“ © C.H. Beck
Cover: Zora del Buono, "Seinetwegen“ © C.H. Beck
AUDIO: "Seinetwegen": Autofiktionaler Roman auf der Spur des Vaters (5 Min)

"Seinetwegen": Autofiktionaler Roman auf der Spur des Vaters

Stand: 12.07.2024 12:55 Uhr

Die Schweizer Schriftstllerin Zora del Buono verlor ihren Vater durch einen Autounfall als sie acht Monate alt war. In ihrem Roman "Seinetwegen" sucht sie nach ihrem Vater, nach Antworten darauf, wie und wer er war - und nach dem Unfallverursacher.

von Katrin Krämer

Zora del Buono ist Architektin und Journalistin. Mitte der 90er-Jahre hat sie das Meeres-Magazin "mare" mitgegründet und war bis 2008 auch stellvertretende Chefredakteurin der Zeitschrift. Seitdem schreibt sie außer Reportagen auch Reiseerzählungen und Romane. Zuletzt erschien 2020 "Die Marschallin". Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Großeltern, die sich als glühende Anhänger Titos ins Slowenien kennenlernten, dann in Italien eine großbürgerliche Existenz führten und gegen Mussolinis Faschismus Widerstand leisteten. Nun ist Zora del Buonos Roman "Seinetwegen" erschienen.

Wie findet man nach sechzig Jahren den Töter seines Vaters? Nicht den "Täter" oder "Mörder", den "Töter".

Nachschlagen, ob es das Wort eigentlich gibt (von Mörder zu reden ist schlicht falsch und Unfallverursacher klingt so technisch). Im Duden steht bei "Häufigkeit": "selten". (...) Der Online-Duden führt auch die fünf Wörter im Alphabet vor und nach dem Töter auf. Davor: Totenvogel, Totenwache, Totenwäsche, Totenwäscherin, Toter." Danach: "Töterin, Toterklärter, Toterklärte, Totes Meer, totfahren." Leseprobe

Auf der Suche nach Antworten in den "Vater-Unterlagen"

Totgefahren wurde Dr. med. Manfredi del Buono am 18. August 1963. Der 33 Jahre alte Radiologe am Kantonsspital in Zürich hinterließ seine Frau und die acht Monate alte Tochter Zora. Obwohl der "Töter" zu schnell unterwegs gewesen, und mit seinem Chevrolet in einem waghalsigen Überholmanöver in den entgegenkommenden VW Käfer gekracht war, kam er mit einer Geldstrafe davon. Der Onkel, der den lindgrünen Volkswagen steuerte, hatte überlebt. Der Vater, den Zora del Buono nur von Fotos kennt, saß auf dem Beifahrersitz und starb im Krankenhaus. Von ihm bleibt ihr nur die Kiste mit den "Vater-Unterlagen".

In der Todesanzeige der Familie gibt es einen Satz, der mich besonders rührt: Das hoffnungsvolle Leben eines großen Menschenfreundes ist erloschen. Leseprobe

60 Jahre später stellt sich die Tochter Fragen:

Was war eigentlich Vaters letzter gesprochener Satz? Was sein letztes Wort? Haben er und der Onkel sich munter unterhalten, als es geschah, vielleicht über Fußball oder Jazz oder Autos oder einen Stier auf der Weide? Leseprobe

Rückzug in sachliche Textpassagen

Vor allem quält sie, wer der Mann war, der ihren Vater auf dem Gewissen hat. Haben ihn Schuldgefühle geplagt? Die Suche nach dem "Töter", ein Mann mit den Initialen "E.T.", wird in diesem autofiktionalen Roman zur emotionalen Achterbahnfahrt. Um sich nicht von ihren Gefühlen überwältigen zu lassen, bremst sich Zora del Buono deswegen beim Schreiben immer wieder aus, indem sie sich in rational beschreibende Textpassagen flüchtet, lexikalische Definitionen aneinanderreiht oder Unfallstatistiken auflistet.

Prominente Opfer des Straßenverkehrs (eine Auswahl): Günter Amendt, Rolf-Dieter Brinkmann, Jean Bugatti, Albert Camus, James Dean, Diana Princess of Wales, Isadora Duncan, Falco, Grace Kelly, Margaret Mitchell, Helmut Newton, Jackson Pollock, W.G. Sebald.

Ergreifend

Wir lesen Erinnerungsfetzen aus del Buonos Studentenleben im wilden Westen des Vorwende-Berlins und protokollartige Abschnitte, in denen sie sich mit Freunden über Verluste, Ängste und Hoffnungen austauscht. Stilistisch schöpft Zora del Buono für ihren Rechercheroman aus dem großen Baukasten. Sie scheut sich auch nicht, im Zusammenhang mit der Wunde, die der Verlust des Vaters hinterlassen hat, einen übersinnlichen Moment zu beschreiben.

Und dann geschieht es, auf dieser Lichtung, wo endlich Himmel sichtbar ist, ein dunkler Himmel, der für einen Moment aufreißt, grell wird, ich spüre eine Stimme, es ist nicht so, dass ich sie höre, ich spüre sie, es ist die Stimme meines Vaters, den ich nicht kannte, der im Auto starb, als ich kein Jahr alt war, den ich nie vermisste, eben weil ich ihn nie kannte, dieser Mann ist hier, er ist bei mir, er ist der Wald (...) er ist mein Beschützer, ich bin er. Leseprobe

Es geht um große Lebensfragen, ums Verzichten und Verzeihen. Und immer wieder um das "Was nun?". Was also wird, wenn sie "E.T." tatsächlich finden sollte? "Seinetwegen" wird so nicht nur zu einer großen existentiellen Reise, an der Zora del Buono uns teilhaben lässt. Sie beweist, wie aus einem eigentlich intimen Vorgang, ihrer zutiefst persönlichen Spurensuche, ergreifende Literatur werden kann.

Weitere Informationen
Buch mit Brille. © imago/AFLO

Pro & Kontra zur Autofiktion: Je authentischer, desto besser?

Der literarische Trend "Autofiktion" spaltet das Feuilleton - ein Pro & Kontra aus der NDR Kultur Redaktion mehr

Seitenansicht einer weiblichen Hand, die auf einer Laptop-Tastatur in der Nähe des Fensters tippt © imago

Phänomen Autofiktion: Warum erzählen so viele Autor*innen von sich selbst?

"Es immer problematischer geworden ist, sich in andere Rollen hineinzufantasieren", findet der Literaturwissenschaftler Moritz Baßler. mehr

Necati Öziri © LST Kärnten/ORF Foto: Robert Schittko

Necati Öziri: "Autofiktionale Figuren sind wie Kinder"

Der Autor steht mit seinem Debütroman "Vatermal" auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. mehr

Buch-Cover: Sigrid Nunez - Die Verletzlichen © Aufbau Verlag

"Die Verletzlichen": Sigrid Nunez' ereignisloser Pandemie-Roman

Der autofiktionale Roman um eine Gruppe von Frauen spielt in der Corona-Pandemie - und verheddert sich in der eigenen Ziellosigkeit. mehr

Ein Nachtisch neben einem Buch über den Stummfilmstar Asta Nielsen - Folge 85 von eat.READ.sleep © NDR Foto: Katharina Mahrenholtz

eat.Read.sleep (85): Rote Grütze und Pseudonyme

Katharina verzweifelt an Autofiktion, Gast Julia Kröhn gibt es in acht Versionen und Jan bekommt, was Asta Nielsen gerne hätte. Und das alles mit Sahne. mehr

Seinetwegen

von Zora del Buono
Seitenzahl:
204 Seiten
Genre:
Roman
Verlag:
C.H. Beck
Bestellnummer:
978-3-406-82240-7
Preis:
23 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Neue Bücher | 12.07.2024 | 12:40 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Romane

Ein Latte Macchiato, eine Brille und eine Kerze liegen auf einem Buch © picture alliance / Zoonar | Oleksandr Latkun

Neue Bücher 2024: Die interessantesten Neuerscheinungen

Unter anderem gibt es Neues von Martina Hefter, Frank Schätzing, Markus Thielemann, Isabel Bogdan oder Lucy Fricke. mehr

Logo vom NDR Kultur Podcast "eat.READ.sleep" © NDR Foto: Sinje Hasheider

eat.READ.sleep. Bücher für dich

Lieblingsbücher, Neuerscheinungen, Bestseller – wir geben Tipps und Orientierung. Außerdem: Interviews mit Büchermenschen, Fun Facts und eine literarische Vorspeise. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mehr Kultur

Sänger Maxim von der Band The Prodigy während eines Auftritts in Kopenhagen 2023. © picture alliance / Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm Foto: Gonzales Photo/Nikolaj Bransholm

Hurricane Festival: The Prodigy, Apache 207 und Sam Fender 2025 dabei

Die englische Elektro-Punk-Band The Prodigy und ein Who-is-Who der deutschen Pop- und HipHop-Szene haben sich für kommendes Jahr angekündigt. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zum Fachkräftemangel: Müssen wir alle länger arbeiten?