"Die Verletzlichen": Sigrid Nunez' ereignisloser Pandemie-Roman
Sigrid Nunez' zum Teil autofiktionaler Roman "Die Verletzlichen" spielt in der Corona-Pandemie. Die größtenteils ereignislose Geschichte verheddert sich in der eigenen Ziellosigkeit.
Ein paar Freundinnen, Mitte 60, die sich seit dem Studium kennen: Wilde Zeiten, Lieben und Leiden haben die Frauen schon miteinander erlebt. Inzwischen ist der Kontakt eingeschlafen. Umso bitterer, dass ausgerechnet eine Beerdigung sie wieder zusammenführt.
Die Erste von uns, die heiratete. Die Erste, die ein Kind bekam. Die Erste, die starb. Lily. Leseprobe
Nach Lilys plötzlichem Tod kommt die Ich-Erzählerin wieder mit ihren alten Freundinnen ins Gespräch. Es geht um scheiternde Ehen, Konflikte mit den erwachsenen Kindern, Emanzipation und Macht.
Die Story: zäh und träge
Sigrid Nunez ist bekannt für ihre entschlossen-ereignislosen Texte. Auch im neuen Roman passiert außer einem Austausch der Figuren nicht wirklich viel. Das passt umso mehr, als mit dem Beginn des Jahres 2020 das Leben der Erzählerin - wie damals für uns alle - vollends zum Stillstand kommt. In den Zeitungen dreht sich alles nur noch um "Wuhan, Wildtiermarkt, Lockdown, Quarantäne" und den Schutz der Vulnerablen - hier nicht ganz ideal übersetzt mit den titelgebenden "Verletzlichen". Spazierengehen ist das Aufregendste, das der Tag zu bieten hat. Wir erinnern uns.
Weil eine Bekannte der Freundinnen zum Schutz vor Corona aus New York flieht, zieht die Ich-Erzählerin vorübergehend in deren Nobel-Wohnung ein. Vor allem, um den kostbaren Papagei zu hüten, der dort zurückgelassen wurde. Als dann auch noch der Mittzwanziger Giersch, ein Freund der Wohnungsbesitzerin, mit einzieht, könnte diese seltsame, neue WG eine Geschichte ins Rollen bringen. Fehlanzeige - es bleibt zäh und träge.
Die Leser bleiben auf dem Trockenen
Die Minderwertigkeitskomplexe der Erzählerin verstärken sich, weil der neue Zimmernachbar außerdem ziemlich sexy ist. Das einzige, was die Autorin daraus macht, sind endlose Grübeleien. An Stellen, die interessant sein könnten - etwa der Lebensgeschichte der chaotisch-liebenswerten, verstorbenen Lily -, bleiben wir Leser auf dem Trockenen. Der Ton ist unterkühlt. Man muss schon suchen, um eine handvoll gefühlvoller Momente zu finden. Immerhin: Es gibt sie. So stellt sich heraus, dass Lily etliche Affären hatte. Eine Freundin formuliert den schönsten Gedanken dazu:
Ich frage mich, mit wem sie getanzt hat. Leseprobe
Ungezwungen, unverstellt - und ohne Ziel
Sigrid Nunez mischt ihrem essayhaften Roman eine Meta-Ebene bei, reflektiert den Schreibprozess, denkt nach über schlechte Roman-Anfänge, über Schreibblockaden und ungeeignete Stoffe. Sie zitiert andere Schreibende und spricht die Leserinnen und Leser immer wieder direkt an.
Mir gefällt, dass Darwin am Ende seines Lebens sagte, er wünschte, er hätte mehr Gedichte gelesen.
Dass Keynes sagte: Er wünschte, er hätte mehr Champagner getrunken.
Dass Tschechow sagte: Es ist lange her, dass ich Champagner getrunken habe. Dann leerte er sein Glas und starb.
Leseprobe
Diese Einschübe geben dem Buch etwas Ungezwungenes, Unverstelltes, manchmal auch einen Spritzer Humor. Wir erleben quasi das Entstehen des Textes mit. Am Ende macht Sigrid Nunez ihren Roman damit aber nicht besser. Zumal ihre harten Urteile über Literatur letztlich auch auf sie selbst zutreffen könnten:
In fast jedem langen Buch, das ich lese, sehe ich ein kurzes, das sich vor der Arbeit drückt. Leseprobe
Ein Roman, der auf einen Plot verzichtet und sich vor allem im Kopf der Protagonistin abspielt, der wohl Verletzlichsten aller Figuren. Die Geschichte ufert an den falschen Stellen aus und verheddert sich in der eigenen Ziellosigkeit.
Die Verletzlichen
- Seitenzahl:
- 224 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Aufbau
- Bestellnummer:
- 978-3-351-04198-4
- Preis:
- 22 €