Pro & Kontra zur Autofiktion: Je authentischer, desto besser?
Gibt's denn nur noch Bücher, in denen Autorinnen und Autoren über sich schreiben - sogenannte "Autofiktion"? Das Publikum scheint diesen literarischen Trend zu lieben. Die Kritik hingegen ist mindestens gespalten, auch unsere Redaktion diskutiert kontrovers.
Pro: Urpinzip des Erzählens
von Lisa Kreißler
Vielleicht sollte man die Autofiktion endlich als das begreifen, was sie in Wirklichkeit ist: eine Rebellion gegen die ödeste aller Fragen an einen Autor: "Ist Ihr Roman autobiografisch?" Dass beim Schreiben die eigenen Erfahrungen eine Rolle spielen, liegt auf der Hand. Warum sollte man auch sonst schreiben? Dass diese Erfahrungen dann in der Transformation in ein Sprachkunstwerk zu etwas Fiktivem werden, ebenfalls. Es ist das Urprinzip des Erzählens.
Texte, die als Autofiktion eingestuft werden, spielen bewusst mit diesem Widerspruch. Vordergründig sieht es so aus, als würde der Schriftsteller über sein "reales Leben" schreiben, in Wirklichkeit aber bricht er den autobiografischen Pakt, in dem er die Intimität der Selbstoffenbarung durch fiktive Details manipuliert. Sehr gut gelungen ist das zum Beispiel in Isabelle Lehns Roman "Frühlingserwachen".
Um den Begriff an dieser Stelle einmal geradezurücken: Autofiktion ist eben nicht "von sich selbst schreiben", sondern "sich selbst als einen anderen schreiben". Verlage instrumentalisieren ihn als Marketingtool, konservative Kritiker benutzen ihn als Schimpfwort für alles, was sich nicht wie Daniel Kehlmann liest. Dabei gerät in Vergessenheit, dass die Autofiktion durch ihren bewussten Umgang mit Wahrheit und Ästhetik, neue aufregende Formen des Erzählens hervorgebracht hat.
Man denke etwa an das einzigartige Kristallisationsverfahren von Annie Ernaux oder Rachel Cusks Poetik der Passivität in ihrer "Outline-Trilogie". Darin bewegt sich ihre Hauptfigur, die Schriftstellerin Faye, durch Europa und begegnet Menschen. Vollkommen ungehemmt erzählen sie Faye von ihren Trennungen, Sehnsüchten und Abgründen. Faye selbst, immer anwesend, entsteht hingegen nur aus der Wiedergabe dieser Geschichten. Sie bändigt den Schmerz der anderen in einer einmaligen Stimme. "Autofiktion" ist im Augenblick das Letzte, was mir zu dieser Stimme einfällt. Denn der Begriff ist ausgeleiert, müde. Vielleicht können wir ihn ja langsam verabschieden und stattdessen bessere Fragen stellen.
Während der Corona-Pandemie veranstaltete das Literarische Zentrum Göttingen eine Podiumsreihe mit dem Titel: "Vom Unbehagen in der Fiktion". An fünf Abenden sprachen Schreibende und Literaturwissenschaftler über die Frage, wie sehr man der Fiktion noch traue. Eine gute und wichtige Frage, über die wir weiterreden sollten. Genauso wie darüber, ob die Literatur in den letzten zwei Jahren nicht wieder sehr viel politischer geworden ist? Es sieht nämlich ganz danach aus.
Kontra: Tod der Fantasie
von Jürgen Deppe
Fiktion war früher: Da haben sich vom Höhlenmenschen bis zu den Belletristen jüngerer Zeit Menschen gegenseitig Geschichten erzählt - meist welche über ungeheuerliche Begebenheiten. Also erzählenswerte. Schaut man sich die Verlagsvorschauen der vergangenen Jahre an, scheint das mittlerweile egal zu sein. Eine Geschichte muss nicht mehr erzählenswert sein, sondern vor allem "authentisch". Und das heißt: Das Ich steht als Garant für alles. Was das Ich als spannend, interessant, verletzend empfindet, habe wiederum ich Leser gefälligst auch als spannend, interessant, verletzend zu empfinden - alles andere würde die Schreibenden diskriminieren oder so.
Natürlich kann Erzählen aus eigener Anschauung Einblicke in Milieus erlauben, die einem sonst verschlossen blieben. Natürlich kann die Schilderung einer persönlichen - seelischen oder materiellen - Notlage Horizonte erweitern. Aber eine auf Wiederkennbarkeit angelegte Null-acht-fuffzehn-Geschichte bleibt eben das, was sie ist: Null acht fuffzehn!
Besonders schlimm wird das vermeintlich "autofiktionale Erzählen", wenn mir gleich die gesamte neuere Geschichte angeblich "neu" erzählt werden soll. Ich weiß nicht, wie viele Koffer und Kartons mit alten Briefen in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf irgendwelchen Dachböden gefunden wurden. Hinterlassenschaften von Oma oder Opa, die ganz neue Perspektiven auf die Familiengeschichte eröffnen. Und weil sich das Ich so wahnwitzig wichtig nimmt, wird suggeriert, es eröffne gleich auch noch ganz neue Perspektiven auf die neuere Geschichte insgesamt: Opa war viel mehr Nazi als man dachte. Uih, uih, uih! Oma hat sich schwer damit getan, den Wiederaufbau allein zu managen und ein Auge auf den Nachbarn geworfen. Potzblitz! Was für Erkenntnisse!
Ich fordere für mindestens fünf Jahre ein Koffer- und Kartonmoratorium für die deutsche Gegenwartsliteratur! Es reicht! Und nur weil Oma Gertrud im Roman dann nicht Oma Gertrud heißt, sondern Oma Gerda, wird daraus noch keine autofiktionale Literatur. Zumindest keine lesenswerte.
Dass alle Schreibenden in gewisser Weise aus sich selbst schöpfen, ist doch selbstverständlich. Aus was auch sonst? Ein Science Fiction-Autor dichtet einem grünen Männchen in der Regel natürlich zwei Beine, zwei Arme und vielleicht noch Antennen auf dem Kopf an: Weil der Science-Fiction-Autor sich selbst oder zumindest die Welt, in der er lebt, zum Maßstab nimmt. Klar! Literatur lebt über das Selbst hinaus aber von Figuren, die für mehr stehen als das Ich der oder des Schreibenden.
Das Primat des Authentischen ist letztlich der Tod der Fantasie. Und die ist ja im besseren Fall nicht Spinnerei, sondern Verdichtung der Realität, Brennglas fürs Wesentliche. Lasst uns in - guten wie bösen - Fantasien schwelgen und uns ein buntes Bild von der Welt machen - auch wenn es grell ist und weh tut. Raufaser gibt es genug.