Frau schaut durch einen Bücherstapel © IMAGO / imagebroker

Literarischer Trend: Was ist Autofiktion?

Stand: 17.02.2024 06:00 Uhr

Wer ein Buch liest, ist natürlich auch Voyeur und hofft, Ungewöhnliches, Abgründiges, Lebensechtes und Hochprivates zu erleben. Autofiktion ist der literarische Trend, der diese Lust besonders reizvoll bedient: Aber liest man immer echte Bekenntnisse?  

von Alexander Solloch

Autofiktion ist, wenn der Autor nicht nur von seinen Figuren träumt, sondern sie auch im Alltag trifft, vor dem Kühlschrank, auf der Straße, im Literaturhaus. So wie Gerhard Henschel, der während einer Lesung in Oldenburg, wo er einst lebte, erklärte: "Ja, es sitzen auch vier Romanfiguren von mir im Publikum."

Leben heißt für Henschel: notieren, sammeln und verwenden für die große Martin-Schlosser-Chronik, deren zehnter Teil unter dem Titel "Schelmenroman" soeben erschienen ist. Prinzipiell alles, was Martin Schlosser - das heißt Gerhard Henschel - seit den 1960er-Jahren gedacht, getan und erlitten hat, kann Eingang finden in diese Reihe - und auch jeder, der schon einmal irgendwie in Kontakt zu ihm getreten ist. Obacht also, wer keine Romanfigur werden will!

Knausgård: Identifikation statt Fiktion

Minutiös das eigene Leben aufzuschreiben - diese Absicht steckt auch hinter dem sechsbändigen Zyklus "Min Kamp" von Karl Ove Knausgård, dem - neben Annie Ernaux - international wohl berühmtesten Autoren von Autofiktion. Nervenzerfetzende, weltbewegende oder auch nur besonders relevante Abenteuer findet man nicht im Werk des Norwegers.

Aber indem er Figuren aufscheinen lässt, die am Zebrastreifen stehen oder in der Schlange an der Supermarktkasse warten oder unter den ganz normalen Schrecklichkeiten eines Kindergeburtstags leiden, Dinge also, die jeder kennt, aber längst nicht jeder reflektiert, ermöglicht er das so unschätzbar Wichtige: Identifikation - auch wenn Knausgård selbst das nahezu angewidert zurückweist: "Ich wollte hier nicht über eine Figur schreiben, die jedermann ist, also: irgendjemand. Ich wollte so genau wie möglich herausfinden, wer ich selbst bin. Welche Umstände haben mich produziert, genau mich und keinen anderen?"

Das habe er herausfinden wollen, nur deshalb habe er diese 3.600 Seiten geschrieben: "Ja, viele identifizieren sich mit dieser Figur; das aber war nicht meine Absicht, ganz im Gegenteil." Was aber ist dann an diesem scheinbar so egozentrischen Projekt überhaupt noch "Roman", überhaupt noch Fiktion? Knausgård selbst lässt seinen Ich-Erzähler an einer Stelle ausstoßen: "Allein schon beim Gedanken an einen erfundenen Charakter in einer erfundenen Handlung wird mir kotzübel."  

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Autorin Schoch: Das "Ich" ist eine erschaffene Figur

Aber es ist eben immer noch eine Figur, die das sagt, in einer vom Autor künstlich - künstlerisch - erzeugten Dramaturgie. Etwas aufzuschreiben heißt ja immer: etwas zu verwandeln, sagt die mecklenburgische Autorin Julia Schoch, die gerade am abschließenden Band ihrer autofiktionalen Trilogie "Biographie einer Frau" arbeitet.

"Es ist eben etwas anderes, als dieses Leben, das man tatsächlich hat und das man vielleicht noch im Tagebuch notiert. Aber auch das ist schon wieder eine Umwandlung", sagt die Schriftstellerin. Es sei eben etwas anderes, "in dem Moment, wo ich baue, eine Figur erschaffe, und dieses 'Ich' ist eine Figur. Es ist eben nicht mein reales Ich. Damit ist schon sowas wie eine Verwandlung da." 

Echtheit und Erfundenes vermengen sich 

Der französische Schriftsteller und Kritiker Serge Doubrovsky, der vor über vierzig Jahren der erste war, der von der "Autofiktion" sprach, verwendete das Bild von der "Drehtür", um ihren Reiz zu verdeutlichen: Hier vermengen sich zwei Genres, die dem Leser ganz Unterschiedliches versprechen, zum einen Echtheit, zum anderen Erfundenes - wie zwei Menschen, die im selben Moment in die jeweils entgegengesetzte Richtung derselben Drehtür drücken. Man kommt dann nicht mehr raus als Leser - das ist das Reizvolle.  

Ja, erklärt Judith Hermann in ihrer Poetikvorlesung mit dem Titel "Wir hätten uns alles gesagt", das "Ich" in ihrer Erzählung, das sei schon sie, und dern Therapeut auch ihrer im wahren Leben - aber andererseits eben doch genau nicht …: "Im Gegenteil: Beide Figuren sind Träume, aufgeschriebene Wünsche. Die Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss." 

Traumwirklichkeit, Selbstanalyse, Verwandlung, Chronik - die "Autofiktion" hat tausend Facetten. Bald tritt noch die tausendunderste hervor. Wenn Gerhard Henschel sagt, er schreibe "schneller, als ich lebe: Ich brauche zur Zeit anderthalb Jahre, um zweieinhalb Jahre zu erzählen", dann wird er sich in etwa 20 Jahren selbst eingeholt haben und in der Lage sein, ein neues Genre zu begründen: den autofiktionalen Zukunftsroman.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Nachmittag | 17.02.2024 | 14:00 Uhr

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