Phänomen Autofiktion: Warum erzählen so viele Autor*innen von sich selbst?
Von sich selbst erzählen, das aber mit mehr oder weniger deutlich erfundenen Anteilen - das ist einer der literarischen Trends der letzten Jahre. Warum ist das so? Fragen an den Literaturwissenschaftler Moritz Baßler.
Autofiktion - Annie Ernaux und Karl Ove Knausgård sind die großen, in ihrer Wirkung und ihrem Erfolg vielleicht unerreichbaren Namen dieser Gattung. Aber man hat doch mittlerweile das Gefühl, dass jede Debütantin, jeder Debütant zunächst einmal nichts als das eigene Ich umkreist. Etwas ganz und gar erfinden, mit Fantasie und Wagemut, das scheinen nur noch wenige in ihrer literarischen Agenda stehen zu haben.
Herr Baßler, das Publikum scheint diesen Autofiktions-Trend zu lieben. Je authentischer, desto besser. Die Kritik hingegen, das Feuilleton, ist mindestens gespalten. Viele fragen sich genervt: Was geht mich der Bauchnabel irgendeines Schreibschulabsolventen an? Welcher Fraktion gehören Sie an?
Moritz Baßler: Ich gehöre gar keiner Fraktion an. Ich kann eigentlich nur beobachten, was passiert. Sie haben vollkommen Recht: Das ist der absolute Trend in den letzten Jahren, und das ist offensichtlich sowohl von der Nachfrage als auch vom Angebot her das, was gegeben ist. Damit müssen wir uns einfach auseinandersetzen.
Wie erklären Sie sich diese gegenwärtige Autofiktionsschwemme auf dem Büchermarkt?
Baßler: Ein Grund ist, dass es immer problematischer geworden ist, sich in andere Rollen hineinzufantasieren. Dann ist da die Frage: Mit welchem Recht schreibt ein Mann als Frau, oder ein Weißer als Schwarzer oder umgekehrt? Da kommt das Stichwort Appropriation ins Spiel, kulturelle Aneignung von etwas Fremdem. Das ist ein Problem, und das Bewusstsein für dieses Problem ist in der jungen Generation sehr hoch. Ich glaube persönlich, dass die Appropriation des Eigenen noch viel schwieriger ist als die des Fremden. Denn über sich selbst kann man ja wenigstens gut urteilen in gewisser Weise.
Ein zweiter Trend ist, dass das Publikum sich immer mehr mit der Figur identifizieren möchte. Das hat etwas mit dem Markt zu tun: Man verdient das Geld ein bisschen mit Büchern, aber sehr stark als Autor oder Autorin mit Lesungen. Das heißt, man möchte da eine Figur haben, die man sieht, die man anfassen kann und mit der man sich identifizieren kann. Das ist im Moment der dominante Diskurs.
In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen hat die Schriftstellerin Judith Hermann gesagt: "Im Rückblick bin ich bisweilen nicht mehr sicher, welcher Teil einer Erzählung stattgefunden hat und welcher ausgedacht ist, welcher Teil die sogenannte autobiografische Wahrheit birgt - wobei das am Ende ja vollkommen einerlei ist." Da fragt man sich: Ist das denn wirklich einerlei? Denn das ist ja tatsächlich immer die drängendste Frage an eine Autorin: Was davon ist wirklich passiert? Das scheint irgendwie wichtig zu sein, als birge das eine eigene literarische Qualität, diese sogenannte Authentizität.
Baßler: Ja, das stimmt. Wenn wir mal ehrlich sind, war das immer schon so; das Publikum hat immer diese Frage gestellt, auch vor 40 Jahren schon. Aber damals haben alle mit den Augen gerollt und gesagt, das sei im Grunde kunstfremd, das sei so, als wenn man in der Sinfonie zwischen den Sätzen klatscht, man habe keine Ahnung. Heute ist es ganz normal, heute ist es die richtige Frage und man muss sie stellen, sie wird gestellt, und sie wird auch beantwortet. Nun machen das manche intelligenter und manche weniger intelligent. Ich finde zum Beispiel, Autoren, die aus dem Feld des Pop kommen, haben so eine Regel internalisiert, die auch für Popmusik gilt, wo Diedrich Diederichsen mal gesagt hat, es dürfe an keiner Stelle entscheidbar sein, ob ein authentisches Ich spricht oder eine Rolle. Also nicht für das Eine entscheiden oder für das Andere, sondern das Hin- und Herchangieren - das sei eigentlich das, was die Qualität ausmache.
Also, dass immer eine Unklarheit bleibt.
Baßler: Genau.
In Ihrem Buch "Populärer Realismus - Vom International Style gegenwärtigen Erzählens" zitieren Sie den Ausruf Maxim Billers, der von "Schlappschwanz-Literatur" sprach, weil in diesen autofiktionalen Erzähltexten immer derselbe konfliktlose Konflikt geschlagen werde: eine junge Frau, ein junger Mann aus der Provinz auf der Suche nach sich selbst. Sie halten in Ihrem Buch Billers Maulerei entgegen: "So ist das nun einmal in autofiktionaler Literatur bundesrepublikanischer Natives. Über deren Qualität ist damit noch gar nichts gesagt." Was also sind die Qualitätskriterien?
Baßler: Die Qualitätskriterien sind literarische. Woher kommt diese Idee von Biller und anderen, dass eine problematische, traumatisierte Biografie erzählenswerter sei, an sich literarischer sei als eine ganz friedliche, bundesrepublikanische, mehr oder weniger problemlose? Ist das Trauma, ist das Böse, ist das Schlechte automatisch literarischer als das Gute und Schöne und Wahre? Nein. Es geht doch darum, wie das literarisch gestaltet ist, was das Buch selber sich für ein Projekt vornimmt und mit welchen literarischen Mitteln dieses Projekt bearbeitet ist. Das kann etwas sehr Schweres sein und etwas sehr Schlimmes, aber es ist natürlich auch sehr schwer, das literarisch adäquat anzugehen. Genauso schwierig ist es vielleicht, einfach nur mal über einen Sommernachmittag am Strand zu schreiben oder über eine Blume oder über einen Käfer.
Also das Prinzip Knausgård: sich die Zähne zu putzen auf ungefähr 25 Seiten. Das kann auch Literatur sein.
Baßler: Das kann Literatur sein, wenn das sehr gut gemacht ist, ja klar. James Joyces "Ulysses" - das sind zum Teil ganz alltägliche Szenen in großartiger Prosa.
Sie sind Mitglied der Jury, die die Preise der Leipziger Buchmesse vergibt. Am 29., Februar wird die Nominiertenliste auch in der für uns besonders spannenden Kategorie Belletristik veröffentlicht. Wie viel Autofiktion wird denn ungefähr draufstehen auf dieser Belletristik-Liste?
Baßler: Da wird sehr, sehr viel Autofiktion draufstehen. Sehr unterschiedlicher Machart, aber autofiktional ist das zu ganz großen Teilen, ja.
Und sind Sie zufrieden mit der Liste? Oder ist sie nach viel Streit und Hader zustandegekommen?
Baßler: Wir haben eine ganz tolle Jury-Vorsitzende, Insa Wilke, die dafür sorgt, dass alles friedlich über die Bühne geht. Aber klar, Jury-Entscheidungen sind Mehrheitsentscheidungen, und da ist man mit vielen Dingen glücklich und mit ein paar Dingen manchmal nicht ganz so glücklich.
Das Interview führte Alexander Solloch.