Roman "Unser Ole": Mutterliebe mit all ihren Schattenseiten
Mit ihrer ganz eigenen Sprache erzählt Katja Lange-Müller im Roman "Unser Ole" eine ziemlich schreckliche Mutter-Tochter-Geschichte, in deren Folgen ein hirngestörter Säugling auf die Welt kommt.
In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen hatte Katja Lange-Müller - 1951 in Ost-Berlin geboren - unter anderem über das "Brühwürfel-Prinzip" gesprochen, also über die Extremverdichtungen, die große Erzählungen der Weltliteratur auszeichnen. In ihrem neuen Roman hat sie eine angeblich wahre Begebenheit extrem verdichtet, jedenfalls betont sie, die Geschichte sei authentisch, auch wenn sie nun anders klingt, als in der Wirklichkeit. Aber das muss Literatur ja: anders klingen als die Wirklichkeit.
Es geht tragisch und komisch und rätselhaft zu in dem Roman "Unser Ole". Das Motto stammt von einer Gruppenpsychotherapeutin: "Sie durchschauen einander, aber sich selbst kennt keine." Und wenn doch alles ausgedacht ist? Egal. Spannende Literatur ist es in jedem Fall.
Zwei alte Frauen - und ein behinderter Halbwüchsiger
Die Geschichte beginnt - nachdem die Autorin uns versichert hat, sie sei wahr, auch wenn sie die handelnden Personen unkenntlich gemacht habe - mit einem populären Lied aus frühen DDR-Zeiten.
"Kleines Haus am Wald/Morgen komm ich bald…" - diesen Herbert-Roth-Schlager aus der Zeit ihrer Jugend hatte Ida vor sich hin gesummt, während sie ihren Koffer packte, um am nächsten Tag bei Elvira einzuziehen. Leseprobe
Ida und Elvira sind zwei höchst verschiedene alte Frauen, die eint, dass sie von ihren Müttern nicht geliebt wurden. Ida war eine besonders schöne Frau, die ihr Leben an der Seite ebenso wohlhabender wie egoistischer Männer verbracht hat. Irgendwann waren die Herren jedoch stets von ihr gelangweilt, und nach der letzten Trennung ist sie ziemlich weit unten angekommen. Im wahren Sinn des Wortes: in einer dunklen Ein-Zimmer-Erdgeschoss-Wohnung. Sie hat eine miese Rente, die sie mit gelegentlichen Auftritten bei Seniorinnen-Modeschauen aufbessert. Auf einer solchen Veranstaltung trifft sie die lange schon verwitwete Elvira, die bis zur Rente mit Leidenschaft berufstätig war. Ihr gehört ein kleines Haus, wo es ein Zimmer für die Freundin gibt.
Elviras 'Eigenheim', ein rauputzgrauer Würfel mit Eternitdach, befindet sich auf einem Eckgrundstück am Rande eines Dorfes nahe der Hauptstadt, von der aus es per Auto gut, per Regionalbahn und Bus aber nur bis neun Uhr abends zu erreichen ist. Elvira nannte ihre abgelegene Gegend einmal "das letzte Loch im Berliner Speckgürtel". Leseprobe
Es ist also nicht direkt das schlagersehnsüchtige "kleine Haus am Wald", in das die stets perfekt geschminkte, auf Kleidung wertlegende Ida zieht. Sie muss keine Miete zahlen. Als Ausgleich soll sie der Freundin im Haushalt zur Hand gehen und bei der Betreuung des halbwüchsigen - titelgebenden - Enkels Ole helfen.
Ein tragischer Unfall - oder hat Ole nachgeholfen?
Zwei alte Frauen, ein hässliches Haus - und ein gestörter 15-Jähriger, der sich nur rudimentär verständlich machen kann, der viel - und immer das Gleiche - isst und am liebsten im Bett liegt. Das ist die Ausgangskonstellation in dem neuen Roman der Berliner Autorin Katja Lange-Müller. Doch dann passiert ein Unglück: ein Sturz. Hat Ole nachgeholfen oder ist die Großmutter gestolpert? Das wird nicht aufgeklärt, auch nicht von den freundlichen Kommissaren, die für kurze Zeit eine wichtige Rolle spielen - und nicht wenig Humor in die nicht gerade komische Lage bringen.
Entscheidender als die Polizei ist jedoch Oles Mutter, die rechtmäßige Erbin, die jetzt das Spielfeld betritt. Womit das Trio im hässlichen Haus wieder komplett wäre. Nur sind es jetzt eine alte und eine mittelalte Frau, die am Küchentisch sitzen und nicht wissen, wie sie mit dem behinderten Ole zurecht kommen sollen.
Sein Intelligenzquotient soll etwa bei vierzig liegen, zudem gilt er als autistisch. Von der allgemeinen Schulpflicht ist er jedenfalls befreit und in die Sonderschule geht er auch nicht. Seine Oma Elvira hat ihn unterrichtet, so gut es ging. Lesen, schreiben, rechnen kann er nicht, dafür hantiert er gern mit Buntstiften und Elvira gefielen seine Bilder… Leseprobe
Von sozialer Einsamkeit und emotionaler Unfähigkeit
Oma Elvira war wohl nicht unschuldig an der Behinderung des Neugeborenen. Jedenfalls erzählt Katja Lange-Müller eine ziemlich schreckliche Mutter-Tochter-Geschichte, in deren Folgen ein hirngestörter Säugling auf die Welt kommt. Überhaupt gelingt es ihr, die Lebensgeschichten dieser drei Frauen in Rückschauen lebendig werden zu lassen. In der Gegenwart entwickelt sich ein spannendes weibliches Herr-und-Knecht-Verhältnis, das geprägt ist von sozialer Einsamkeit und emotionaler Unfähigkeit. Die Autorin entwirft in diesem Roman traurige Figuren und Konstellationen, zeichnet verlorene Leben, die trotzdem von Widerstandskraft geprägt sind. Und deren Rückschauen immer wieder Anlass für ziemlich komische Episoden geben. In der Musik wäre es wohl ein Capriccio, "frei in der Form und von lebhaftem Charakter".
Und dann gibt es ja noch Ole, der wie ein Elefant im Erzählraum steht und der für ein mysteriöses Ende sorgt in diesem leichthändigen - wie die Autorin es nennt - Prosadrama. Gerne hätte man eine Auflösung, aber da es eine wahre Geschichte ist, die hier erzählt wird, müssen wir ohne auskommen. Im Leben geht es eben nicht zu wie im Roman. Und alle Spuren verlaufen sich hier sowieso im märkischen Sand.
Unser Ole
- Seitenzahl:
- 240 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Kiepenheuer & Witsch
- Bestellnummer:
- 978-3-462-05017-2
- Preis:
- 24 €