30 Jahre Mauerfall: Wir brauchen weniger Polemik
In ihren Erzählungen und Romanen setzt sich die Schriftstellerin Katja Lange-Müller immer wieder mit der deutschen Geschichte, den Erfahrungen und Schicksalen in der DDR auseinander. Auf Deutschland im Jahr 2019, im Westen und Osten, blickt sie mit gemischten Gefühlen.
Seit unser Land wiedervereint ist - oder wieder vereint, das zumindest ist lediglich eine Frage der Betonung -, begehen wir den Tag, an dem das besiegelt wurde; der 3. Oktober ist ein Feiertag. Doch jener Tag, der diesen Staatsfeiertag erst möglich gemacht hat, fällt auf ein späteres Datum, eines, das man ein Schicksalsdatum der Deutschen nennen muss. So Unterschiedliches, Grauenvolles und Gutes geschah an einem 9. November. Jener 9. November 1989, an dem die Ostberliner die Mauer stürmten, war fraglos ein Glückstag, einer, den die meisten von uns wirklich feiern. Manche Bewohner der Neuen Bundesländer feiern aber auch - noch oder schon wieder - den 7. Oktober, an dem vor 70 Jahren die DDR gegründet wurde, ein Staat, den es nicht mehr gibt - und eben das ist nicht "Teil der Lösung, sondern Teil des Problems".
Was nützt Freiheit, wenn der Preis dafür der gefühlte Verlust der Identität ist?
Sicher, das Ende der DDR kam "plötzlich und unerwartet", wie es in Todesanzeigen gerne heißt, also womöglich zu schnell, auf jeden Fall schneller und vor allem anders, als die Bürgerrechtler vom Bündnis 90 es sich vorgestellt hatten. Bezeichnenderweise sind vom Bündnis 90/Die Grünen in unserer Wahrnehmung einzig Die Grünen übriggeblieben. Aber auch die vom Bündnis 90 waren eben nicht "das Volk". Das Volk, die große Mehrheit, die nur zum Teil bei den Demos mitgelaufen war, wollte die D-Mark und damit den Anschluss an die BRD. Doch die Freude an der heiß ersehnten D-Mark währte nur kurz, denn Helmut Kohl, der "Kanzler der Einheit", war auch "ein glühender Europäer", falls Kohl überhaupt je für etwas glühen konnte, und Europa - oder eher die EU - bedeutete das Aus für die D-Mark und bescherte uns den Euro. Umsonst hatten die Ostdeutschen skandiert: "Kommt die D-Mark nicht zu uns, gehen wir zu ihr."
Und ja, es stimmt, die 45- bis 60-Jährigen hat die Zeit des Umbruchs, der Treuhand und der Schließung ihrer unwirtschaftlichen Betriebe und damit die - wenngleich alimentierte - Arbeitslosigkeit kalt erwischt. Was nützt Freiheit, wenn der Preis dafür der gefühlte Verlust der Identität ist? Die Ostdeutschen identifizierten sich weitaus stärker als die Westdeutschen über ihre Berufe, ihre Arbeit. Es gab in der DDR ja die gesetzliche Pflicht zur Arbeit; und gerade die war weg, von einem Tag auf den anderen und für viele bis zur Rente. Zwei Jahre nach der sogenannten Wende hörte ich diesen Spruch: "In Paris war ich, einen gebrauchten BMW, Telefon und 'ne Satellitenschüssel hab' ich - jetzt kann Honecker wiederkommen." Was kam, war: Städtesanierung, wirtschaftliche Umstrukturierung, Abwanderung der Jungen, gut Ausgebildeten aus ihren Heimatregionen in Sachsen, Thüringen, Brandenburg. Mindestens so viele, wie vor der Wende weggegangen waren, gingen danach. Die halfen, den Arbeitskräftemangel in den alten Bundesländern zu beheben und ließen dort, wo sie fortan fehlten, die nicht mehr vermittelbaren Älteren zurück. Davon profitierte der Westen - und würdigte es nicht einmal.
Wie Erwachsene auf dem Entwicklungsniveau von Kleinkindern
Im Übrigen hatten auch die im Westen angekommenen, aber ostdeutsch sozialisierten Jungen oft den Eindruck, dass die Art, wie sie zu leben gelernt hatten, irgendwie falsch war; sie fühlten sich wie Erwachsene auf dem Entwicklungsniveau von Kleinkindern. Die Westdeutschen wirkten sicherer, entspannter, raffinerter, einfach cooler. Das erzeugt bei denen, die nicht so sind, Unsicherheit, Neid, Frust, eine - dem Phänomen des Kriechstroms vergleichbare - innere Wut. Und die verlassenen Eltern machten ihrem so oder so abgehauenen Töchtern und Söhnen Vorwürfe, bezichtigten sie gar des "Verrats an ihren Wurzeln".
Nichts dagegen, oder fast nichts, änderte sich im Dasein der meisten Westdeutschen. Warum auch? Konnten die etwas dafür, dass sie in anderen Regionen Deutschlands aufgewachsen waren? Hatten die einen Grund, sich Gedanken zu machen über die Befindlichkeiten ostdeutscher Mimosen mit komischen Dialekten? Wenn die Ostler jetzt sagten: "Wir sind doch ein Volk", antworteten die anderen: "Na und? Wir sind auch eins."
Die Entdeckung "Dunkeldeutschlands"
Dann ließ Angela Merkel, eine Ostdeutsche, eine Million Flüchtlinge ins Land, und Joachim Gauck, ebenfalls ein Ostdeutscher, und mit ihm die Linken aller Himmelsrichtungen entdeckten "Dunkeldeutschland": kleingläubig, rückständig, fremdenfeindlich. Das kränkte die eh schon gekränkten Ostdeutschen zutiefst, glaubten sie doch noch immer, sie hätten tatsächlich eine Revolution gemacht und sich dann einem Rechtsstaat angeschlossen; vorstellbar, dass nicht wenige von ihnen dachten, damit sei ein rechter Staat gemeint. Schließlich waren die alte Bundesrepublik und deren Medien lange genug die schärfsten Kritiker der kommunistischen, also linken Diktatur in der DDR gewesen. Und nun wurde der Staat, in dem ihrer aufgegangen war, unter einer ostdeutschen CDU-Kanzlerin immer kosmopolitischer, immer linker.
So sahen und sehen das viele Bürger "Dunkeldeutschlands". Weil sie sich missachtet und pauschal verdächtigt wähnen, sind sie leichte Beute für die brandgefährliche AfD, die besonders im Osten gute Wahlergebnisse erzielt. Mancher undankbare, uneinsichtige Ostdeutsche weiß zumindest, das ärgert die Politiker, die Linken, die Grünen und die regierungskonformen Medien im ach so toleranten, moralisch überlegenen Westen. Rächen sich diese Ostdeutschen an denen, die sie aufgenommen haben, für die Demütigung, eben diejenigen zu sein, die aufgenommen wurden? Verdrängen sie, dass es ihr Wunsch gewesen war und dass nicht der Staat BRD sie zu unselbständigen, kleinmütigen, pessimistischen Menschen gemacht hatte?
Sie sind im Wortsinn enttäuscht, heimlich wohl auch von sich selbst. Denn mittlerweile dürfte ihnen klar sein, dass man Freiheit nicht nur wollen, sondern können muss. Der Mensch wird eben nicht frei geboren. Frei zu sein, muss man lernen; es bedeutet: Übernimm Verantwortung für dein eigenes Wohl und Wehe. Negativer ausgedrückt heißt das: Egoisten sind meistens frei. Andererseits sind die Ostdeutschen doch stolz und weniger feige als manche Westler, die sich lieber aus allem heraushalten, um sich ihre Karrierechancen nicht zu vermasseln; Karriere bedeutet Wohlstand. Und leider haben Ostdeutsche, sozialisationsbedingt, ein ausgeprägtes Gespür für Ideologie und Heuchelei.
Es ist an der Zeit, ehrlich und fair miteinander zu streiten
Ja, die im Westen Deutschlands geborenen Menschen sind größtenteils gelassener, weltläufiger, vielleicht auch reifer; sie haben andere und bessere Erfahrungen gemacht, denn sie wurden nicht so viel gegängelt und gedemütigt und nicht 40 Jahre in Unmündigkeit gehalten. Doch müssen sie deswegen derart pseudoüberlegen auf den Putz hauen und den Ostdeutschen auch noch vorhalten, dass sie selbst schuld wären, weil sie ihr "Demokratiedefizit" noch immer nicht ausgeglichen hätten?! Müssen sie auf ihre Landsleute von drüben runtergucken wie auf plebejische Kohlköpfe?
Es ist, meine ich, an der Zeit, ehrlich und fair miteinander zu streiten und die Probleme im Osten, die realen und die zur Legende von den "Bürgern zweiter Klasse" aufgeblasenen, ernst zu nehmen. Wir brauchen weniger Polemik und genauere Analysen der politischen und sozialen Verhältnisse. All die gegenseitigen Bezichtigungen düngen nur das Myzel des giftigen Spaltpilzes, der längst und quer durch unsere Republik gewachsen ist; die werden, unbeabsichtigt, aber dennoch wirksam, letztendlich nur den wirklich reaktionären Kräften nützen.