"Das Buch der Schwestern": Schicksal zweier einsamer Kinder
Amélie Nothomb ist eine Vielschreiberin. Fast jedes Jahr erscheint ein neuer Roman von ihr. "Das Buch der Schwestern" lässt einen nicht kalt. Er ist befremdlich und packend zugleich.
Es geht um die Liebe - zum einen zwischen Nora und Florent, deren Leidenschaft füreinander auch die Jahre nicht dämpfen können. Es ist eine "amour fou": Die beiden brauchen nur einander. Trotzdem bekommen sie ein Baby. Anfangs weint das kleine Mädchen viel, bis der Vater der zwei Wochen alten Tristane erklärt, jetzt sei aber mal "Schluss mit dem Rumgeheule":
"Na, das hat ja gesessen", flüsterte Nora. "Ich glaube, sie hat mich verstanden." Die Kleine weinte nie wieder. Das Glück der Eltern blieb ungetrübt. Sie kümmerten sich um das Baby, wenn nötig, und sonst war alles wie vorher. Leseprobe
Seelenschwestern vom ersten Moment an
Tristane ist, nicht verwunderlich bei der Konstellation, ein einsames Kind. Im Leben ihrer Eltern spielt sie keine Rolle, sie hat vor allem die Aufgaben, es nicht zu stören. Weil das Umfeld dazu rät, wird Nora dennoch ein zweites Mal schwanger und Laetitia wird geboren. Endlich ist die inzwischen fünfjährige Tristane nicht mehr allein.
Tristanes Herz klopfte bis zum Hals, als sie die drei kostbarsten Kilogramm des Universums in die Arme nahm. Zwei Seelen erkannten sich und hallten ineinander wider. Zwei Planeten richteten sich aneinander aus, so exakt, dass eine nur für sie hörbare Musik erklang, die nie mehr verstummen sollte. Dieses Halb-Licht-halb-Ton-Phänomen pulsierte zwischen ihnen sechzigmal pro Minute und für alle Ewigkeit. Leseprobe
Tristane übernimmt die Mutterrolle
Tristane - Laetitia: Die Traurige und die Fröhliche. Amélie Nothomb spart nicht an deutlichen und pathetischen Worten. Seltsam plakativ, fast märchenhaft erzählt sie von den beiden ungleichen Schwestern, deren Liebe ebenso absolut ist wie die ihrer Eltern. Tristane, die Intelligente, Aufopferungsvolle, die schon mit vier Jahren lesen und schreiben kann, wird sechs Monate lang nicht in die Vorschule gehen, sondern als Ersatzmutter das Neugeborene füttern, wickeln und wiegen:
Nora nahm im September ihre Arbeit wieder auf. Morgens fuhren die Eltern mit dem Auto weg und ließen ihre Töchter zu Hause allein. Dass eine erwachsene Person da sein müsste, kam ihnen nicht in den Sinn. Tristane war doch so vernünftig. Bei ihr gab es kein Versagen, keine Dummheit, keine Kindereien. Leseprobe
Die ältere Schwester kann sich befreien
Laetitia wächst zu einem fröhlichen, quirligen Mädchen heran, das früh über die ältere Schwester bestimmen möchte und oft auch kann. Tristane fühlt sich in der Pflicht und dank ihr funktioniert die ungewöhnliche Familienkonstellation jahrelang. Über weite Strecken mutet die Geschichte in ihrer Holzschnitthaftigkeit geradezu fantastisch an, gleichzeitig tauchen beim Lesen im Kopf Bilder von vernachlässigten, misshandelten Kindern auf, wobei Nothomb mehr als deutlich macht, dass nicht immer körperliche Gewalt eine Rolle spielen muss. Sie begleitet die Schwestern bis ins Erwachsenenleben. Tristane gelingt es mit dem Abitur tatsächlich, sich zu lösen, sie geht zum Studium nach Paris. Doch die Einsamkeit der ersten Jahre begleitet sie, die Einsamkeit der Nichtbeachtung durch die Eltern, die die ältere Tochter früh als "graue Maus" gebrandmarkt haben.
Tristane ging zu vielen verschiedenen Psychotherapeuten. Meistens passierte gar nichts. Manche schadeten ihr trotz bester Absicht. Schließlich fand sie einen älteren Herrn, der sehr wenig redete. Da stimmte die Chemie. Selbstverständliches wurde entdeckt. Was ins Auge springt, bleibt stets verborgen. Tristane hatte qua Geburt den Titel der Zweiten erhalten, Platz und Rolle gleichermaßen. Leseprobe
"Das Buch der Schwestern" befremdet und entfaltet dennoch einen gewissen Sog, das Schicksal von Tristane und Laetitia lässt einen nicht kalt. Dass letztlich die Schwesternliebe siegt, liegt auf der Hand. Interessant ist, dass Amélie Nothomb der "Familie" von Nora und Florent eine zweite gegenüberstellt, die von Noras Schwester. Diese ist alleinerziehend, liebt zwar ihre Kinder, ist jedoch ebenfalls unfähig, sich um sie zu kümmern. Ihr bester Freund ist der Fernseher, der rund um die Uhr läuft. Die drei Söhne gehen später zum rechtsextremen Front National, die Tochter stirbt an Magersucht. Es sind wichtige Fragen, die Nothomb behandelt, sie liefert durchaus Denkanstöße, doch ein bisschen subtiler hätte sie diese Geschichte der an Liebe so reichen und gleichzeitig so armen Menschen gerne erzählen dürfen.
Das Buch der Schwestern
- Seitenzahl:
- 160 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Grosse.
- Verlag:
- Diogenes
- Bestellnummer:
- 978-3-257-61474-9
- Preis:
- 23 €