Robert Menasse fabuliert über Brüsseler Bürokratie
Mit "Die Erweiterung" ist Robert Menasse so etwas wie die Fortsetzung für den 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnetem Roman "Die Hauptstadt" gelungen. Ein Buch über die Verwicklungen der Brüsseler Bürokratie.
"Ich bin als Schriftsteller ein Abenteurer, der die Techniken beherrscht, die ein Ingenieur der Seele braucht", sagt Robert Menasse. Der Autor lebt mit seinen Figuren, wie Robert de Niro in Martin Scorseses Boxerdrama "Raging Bull". "Wenn ich zum Beispiel von einem Menschen erzähle, der sehr übergewichtig ist, dann laufe ich Gefahr, im Laufe eines Nachmittags zwanzig Kilo zuzunehmen."
Das Lebensthema von Robert Menasse ist auch in diesem Roman die unmittelbare Auswirkung der europäischen Politik auf unser aller Leben. Warum aber Albanien? So abwegig und entlegen, der Focus auf den ersten Blick erscheint, so logisch, lebensprall und zeitaktuell erweist sich die Wanderung durch das Land, auf die der Autor uns mitnimmt: "Wenn man bedenkt, dass über 90 Prozent der Albaner unbedingt in die Europäische Union hinein wollen - das ist eine Zustimmung zur EU, die weit größer als die Zustimmung in allen Mitgliedsstaaten ist - sollten wir uns die Länder anschauen, die in die EU hinein wollen, denn sie werden in absehbarer Zeit Teil unserer Einheit in Vielfalt sein."
"Die Erweiterung" zeigt Menasses Fabulierlust
Dazu kommt die Fabulierlust des Wieners und seine Liebe zu seinen Protagonisten. Denn wenn Robert Menasse sagt: "Die politischen Probleme dort werden in absehbarer Zeit unsere Innenpolitik sein", dann finden sich in dem Vexierspiel real existierende Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wieder, wie der albanische Präsident oder polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, was dem Roman eine dokumentarische Schärfe verleiht.
Die Menschen, die meinen Roman bevölkern, die durch meine Roman wimmeln, die ihr Leben zu machen versuchen, das sind literarische Figuren. Aber der polnische Ministerpräsident, der nachweislich und belegbar und bekanntermaßen europäisches Recht bricht, heißt Mateusz, weil er Mateusz heißt. Buchzitat aus "Die Erweiterung"
Faktenreicher Roman voller Lebensbilder
Menasse braucht den Familiennamen nicht, wenn er die Freundschaft der polnischen Jugendlichen zwischen Mateusz und dem Juden Adam im Untergrund aus der Perspektive von Adam in Brüssel beschreibt, aber wir lesen diesen faktenreichen Roman voller Lebensbilder mit anderen Augen. "Wenn man in Albanien lebt, so wie ich es getan habe, eine Zeit lang um das Leben, den Alltag, die Menschen dort kennen zu lernen", erzählt Menasse, "kommt man um Skanderbeg nicht herum."
Der Helm des mittelalterlichen Fürsten, der die albanischen Stämme geeint hat und als Held galt, weil er das christliche Abendland gegen die Osmanen verteidigt hat, wird zur Trophäe in dem Geduldspiel des Romans um die Einheit der Albaner. Auch wenn er zunächst in einer Museumsvitrine einer Rüstkammer liegt in Wien, so Menasse: "Ich fand es zunächst interessant oder witzig, dass die Albaner ein Narrativ haben, ein großes Symbol für ihre Einheit. Und sie wollen hinein in die EU, die kein Narrativ für ihre Einheit hat."
Sog über 652 Seiten
Doch das ist die Abstraktion, der Masterplan. Als Lesende wandern wir durch das Wimmelbild der Szenen, treffen verknöcherte Brüsseler Bürokraten auf Freiersfüßen, begegnen der irrwitzigen albanischen Politik und ihrer Logik und einem bräsigen Wiener Kommissar, dessen Fahndung nach der albanischen Mafia in Italien rasch rasant an Fahrt gewinnt. Wir wandern durch Tirana, dessen Schauplätze, Restaurants und Hotels sich als real existent erweisen und vergessen rasch das große Ganze über die Lust an den facettenreichen Geschichten, die Robert Menasse erzählt: "Ich habe ja meistens in meinen Romanen Erzählungen, also ein breites Spektrum. Ich öffne einen großen Fächer."
Mit diabolischem Vergnügen lockt uns der Schriftsteller von seinem Schreibtisch in Niederösterreich auf falsche Fährten, lässt uns mit dem Schicksal seiner Figuren bangen. Dies ist eine fesselnde Innenansicht der politischen Dynamik zynischer Intriganten zwischen Brüssel, Warschau, Tirana und Wien, so dass das Buch nur aufschlagen sollte, wer sich die Zeit für den Sog dieser 652 Seiten leisten kann.
"Die Erweiterung"
- Seitenzahl:
- 652 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Suhrkamp Verlag
- Veröffentlichungsdatum:
- 10.10.2022
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43080-4
- Preis:
- 28 Euro €