Bildband "Sacred Modernity": Eine fotografische Pilgerreise
Viele Kirchen aus Beton aus den 1960er- und 1970er-Jahren werden als hässlich empfunden. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele von genialer Architektur. Der Bildband "Sacred Modernity" zeigt imposante Beispiele der Betonmoderne.
Sie betreten eine Welt aus Licht und Schatten: höhlenartige Gewölbe, hoch oben leicht erhellt von einem einzigen Sonnenstrahl. Ein Gefühl wie in einem uralten Salzstollen. Kristalline Formen, harte Kanten - aus rohem Beton. Irgendwo baumelt ein abstraktes Kreuz. Dann sind es wieder helle, schwebende Konstruktionen mit Wänden aus Alabaster. Manche Gewölbe scheinen aus Korb geflochten, alles ohne Sinn und Verstand. Scheinbar. Brutalistisch, expressionistisch, abweisend? Auch das. Es ist die Welt moderner Kirchen der 1950er- bis 1980er-Jahre.
Imposante Betonklötze, verteilt in ganz Europa
Diese Sakralbauten sind die jüngste Schicht der Erdkruste, emporgehoben durch die Gnade, welche die Materie trotz der Schwerkraft erheben und sie dem Licht entgegenstrecken. Leseprobe
Das schreibt der Architekt Ivica Brnić nicht ohne Pathos. Der britische Fotograf Jamie McGregor Smith hat sich während der Corona-Pandemie auf die Suche nach diesen Gebäuden in ganz Europa gemacht. Er fand sie überall, oft waren sie unbeachtet. Zu Unrecht.
Damit begann eine fotografische Reise, fasziniert von den außergewöhnlichen, übernatürlichen Strukturen, die der Fantasie so freien Raum lassen. Ob man nun an einen Gott glaubt oder nicht, sie bleiben ehrfurchtgebietend. Leseprobe
Tatsächlich: Wer das Gebirge aus Betonklötzen sieht, das auf dem Wiener Georgenberg steht, wird ganz still. Kleine und große, himmelsstürmende und erdverwachsene Kirchen in Italien, der Schweiz, Österreich, Deutschland, Polen, in Großbritannien. Räume, die von einem inneren Rhythmus in Bewegung versetzt scheinen.
Eine Art architektonische Science-Fiction
Für diese Formexplosion nach dem Zweiten Weltkrieg gab es einfache Gründe: Beton war billig, viele alte Kirchen waren zerstört. Und aus Stahlbeton bestehen die allermeisten dieser Strukturen, die fantastisch wirken, auch verspielt, manchmal wie Raumschiffe, Spiralen in den Himmel. Es ist eine Art architektonische Science-Fiction, 50 bis 80 Jahre alt. Der Autor Jonathan Meades beschreibt in einem brillanten Essay, wie der christliche Glaube damals neue Ausdrucksformen suchte:
Der alte furchterregende Gott hatte sich angesichts systematischer Gräueltaten und industrialisierter Vernichtung als ohnmächtig erwiesen, also war es vielleicht an der Zeit für eine überarbeitete Version, für Gott, den Unmächtigen, für Gott, den immer so netten Kerl, für Gott, den Weichling, Gott, den Schüchternen. Leseprobe
Das Zweite Vatikanische Konzil Anfang der 1960er-Jahre stellte die klassische katholische Liturgie auf den Kopf. Plötzlich sollte der Altar in der Mitte stehen, ganz à la mode. Die Räume scheinen um das Sakrale zu tanzen, hüllen es ein wie ein Zelt - überflüssiges Dekor wird vermieden, die Hierarchie aus Hirte und Schäflein ist optisch abgeschafft. Die Menschen sollten mitgenommen werden.
Es gab Bunker und Schiffe. Es gab Kirchen, die wie Silos aussahen, Kirchen mit schwungvollen Dächern und hyperbolischen Parabeldächern. Die Gläubigen mussten hart arbeiten, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie überhaupt eine Kirche besuchten. Leseprobe
Überwältigende Formenvielfalt
Bei manchen Beton-Ungeheuern gerät man auch ins Frösteln. Vor allem aber staunt man beim Durchblättern - ob über die Kathedrale von Liverpool, diese raketenartig emporschießende monumentale Struktur, das Höhlengebirge der Wallfahrtskirche in Neviges oder die elegante holzverkleidete Jurte der Kirche Maria Krönung in Zürich. Die Formenvielfalt ist überwältigend.
Der sehenswerte Bildband zeigt einen Glauben an die Zukunft, der heute fast verblüfft. Und wetten, dass auch in Ihrer Nähe, in Ihrer Stadt, Ihrem Landkreis, so eine Kirche steht? Langsam in die Jahre gekommen, aber aufregend wie ein Beton-gewordenes Stück Zukunft? Gehen Sie mal hinein. Das Buch inspiriert.
Sacred Modernity
- Seitenzahl:
- 208 Seiten
- Genre:
- Bildband
- Zusatzinfo:
- mit Texten von: Ivica Brnić, Jonathan Meades, Jamie McGregor Smith
- Verlag:
- Hatje Cantz
- Bestellnummer:
- 978-3-7757-5646-4
- Preis:
- 54 €