Scheitern: Zwischen tragischem Schicksal und Chance?
Thomas von Steinaecker sammelt unvollendete Kunstwerke - und nicht nur die, vor deren Vollendung die Künstler*innen gestorben sind. Steinaecker schreibt über das Scheitern in der Kunst. 2021 hat er sein Buch "Ende offen" veröffentlicht.
Heute, am 17. Januar, ist der Tag der gebrochenen Vorsätze, an dem viele merken, dass sie - in dem, was sie sich vorgenommen haben - schon längst wieder gescheitert sind. Richtig scheitern kann aber auch eine Kunst sein. Oft fällt erst die Nachwelt ein Urteil, dass derjenige dann gar nicht mehr mitbekommt.
Von Steinaecker: Da gibt es viele tragische Fälle wie die sprichwörtlich "Unvollendete" von Schubert, der Zeit seines Lebens nur mit Misserfolg gekämpft hat. Plötzlich gilt er als bahnbrechender Vorreiter von einer Musik, die man damals nicht verstanden hat, bei der er selber Muffensausen bekommen hat. Er hat sie beiseite gelegt, weil er sich gedacht hat: Das wird sowieso nicht gespielt werden, keine Chance. Die letzten beiden Sätze von der Sinfonie lasse ich jetzt einfach liegen. Mit dem Besteck, das ich momentan habe, komme ich nicht weiter. Der Blick der Zukünftigen ist ein anderer darauf und die erkennen das Bahnbrechende darin umso klarer.
Unterteilt ist Ihr Buch "Ende offen - Das Buch der gescheiterten Kunstwerke" in die Abschnitte "Utopien", "Tod", "Größenwahn" und "Der Zufall möglicherweise". Welche Rolle spielt der Zufall bei alldem?
Von Steinaecker: Eigentlich wird vom Kunstbetrieb erwartet, dass man so effizient wie möglich arbeitet. So etwas wie Zufall ist eigentlich nicht vorgesehen, wenn man einen Abgabetermin hat. Was man vergisst, ist, dass durch Zufall und Assoziationen kreative Prozesse funktionieren und der Zufall eine wichtige Rolle spielt. Man muss nur einkalkulieren, dass es, sobald man sich darauf einlässt, sowohl zu Höhenflügen führen kann, als auch in den Abgrund. Jedes Kunstwerk - das vergisst man leider immer wieder - ist das Ergebnis von vielen glücklichen Umständen. Es muss vieles passieren, damit ein Kunstwerk entsteht. Es entspricht eigentlich nicht der Wahrscheinlichkeit, dass es so etwas wie ein geglücktes Kunstwerk gibt. Deswegen sind geglückte Kunstwerke, auch gescheiterte Kunstwerke, die uns heute noch beglücken können, ein Wunder.
Besonders erfolgreiche Leute sind oft deswegen erfolgreich gewesen, weil sie öfter gescheitert sind oder den Mut dazu hatten und immer wieder aufgestanden sind, also ein ungeheurer Lerneffekt. Kann man das so sagen?
Von Steinaecker: Solche Fälle gibt es natürlich - Gott sei Dank. Es gibt aber auch ganz tragische Fälle. Eines meiner Lieblingsprojekte, das gescheitert ist, ist das Album "Smile" von den Beach Boys in den 1960er-Jahren. Der Kopf der Beach Boys, der dafür verantwortlich war, Brian Wilson, ist buchstäblich verrückt geworden und hat sich völlig in diesem Werk, aus dem er keinen Ausweg mehr gefunden hat, verloren. Dann hat, wie so viele in den 60er-Jahren, versucht, das durch Drogen zu kompensieren.
Manchmal, wenn noch etwas nachgeklappt wird, um es zu komplettieren, macht es das nicht unbedingt besser.
Von Steinaecker: Das stimmt. Es gibt Versuche, unvollendete Werke nach dem Tod des Urhebers zu komplettieren. Ich hoffe, ich lehne mich da nicht aus dem Fenster, aber das geht meistens schief. Es gibt durch die neue KI-Technik auch Versuche, zum Beispiel Beethovens zehnte Sinfonie mittels eines Computerprogramms zu vollenden. Da fehlt dann doch das Entscheidende.
Am 15. Januar ist der US-amerikanische Filmregisseur David Lynch gestorben. Inwiefern reiht er sich in die Reihe prominenter Gescheiteter ein?
Thomas von Steinaecker: Er hatte sehr viele Projekte, die nichts geworden sind. Er hatte immer Probleme, seine für den Mainstream zu verrückten Filme zu finanzieren. Da gab es viele Projekte, die auf der Strecke geblieben sind, zum Beispiel "Ronnie Rocket". Das ist eines meiner Lieblingsprojekte von ihm über einen Roboterzwerg, der durch eine apokalyptische Zukunftslandschaft irrt - typisch David Lynch. Kein Studio konnte sich dafür erwärmen, diesen Film zu finanzieren. Auch viele seiner anderen Filme, zum Beispiel "Mulholland Drive", sollten ursprünglich Fernsehserien werden, die dann gescheitert und unvollendet geblieben sind. Dann hat er sich entschlossen, aus dem Material, was er gedreht hat, einen Spielfilm zu machen. Gott sei Dank kann man sagen: Der Film gilt als sein großes Meisterwerk. Wie die Serie geworden wäre: Keiner weiß es.
Die Fehlerkultur in Deutschland ist im internationalen Vergleich schlecht: Scheitern, beispielsweise im wirtschaftlichen Kontext, ist oft ein Tabu. Weshalb fasziniert uns als Gesellschaft das Scheitern und das Unfertige in der Kunst so sehr?
Von Steinaecker: Das ist eine relativ junge Entwicklung. Noch im 19. Jahrhundert hat das nicht so eine Rolle gespielt. Im 20. Jahrhundert und besonders im 21. Jahrhundert ist das Interesse daran sprunghaft angestiegen. Meine These wäre: In einer Zeit, in der so etwas wie Authentizität der Heilige Gral der Ästhetik geworden ist und in der wir uns selber durch die Digitalisierung und durch den Verlust eines Gefühls für die Materie und des Wirklichen immer fremder werden, sucht man nach dem, was unverstellt, unbearbeitet, roh und komplett direkt ist.
Ein Beispiel dafür wäre das Gemälde "Friedhofseingang" von Caspar David Friedrich. Was hat es mit diesem Gemälde auf sich? Kann man sagen, Caspar David Friedrich hat hier im Grunde sein eigenes Grab gemalt?
Von Steinaecker: Das ist die Interpretation von uns Nachgeborenen. Man muss da sehr genau hinschauen, weil die unfertigen Details auf dem Bild - ein Paar, das um eine Friedhofsmauer lugt und ein Engel ganz in der Mitte - sind mit bloßem Auge oder auf Reproduktion nicht wirklich gut erkennbar. Aber Caspar David Friedrich war auch jemand, der ständig mit Misserfolg und Depressionen gekämpft hat. Dieses Bild kann man so als Ausdruck von einer seiner vielen Krisen verstehen. Das Unfertige des Bildes könnte man dahingehend interpretieren, dass er eben wieder eine schwere Krise hatte, mit dem Bild dann auch nicht zu Rande kam.
Das Gespräch führte Philip Cavert.