Nur Trittbrettfahrer? Ilko-Sascha Kowalczuk über die Wende
Die meisten Menschen im Osten seien 1989/90 erst auf den Zug Richtung Freiheit aufgesprungen, als das Ende der DDR längst besiegelt war, schreibt Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch "Freiheitsschock".
Man könnte es für das überhebliche Urteil eines Besser-Wessis halten, was Ilko-Sascha Kowalczuk da über die Ostdeutschen schreibt. Aber er selbst ist ehemaliger DDR-Bürger, in Ost-Berlin geboren. Zu Wendezeiten war er mit Anfang 20 noch etwas zu jung, um aktiver Teil der Bürgerbewegung zu sein, aber er war schon ein entschiedener Gegner des SED-Regimes.
"In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wollte kaum noch jemand die DDR so behalten, wie sie war", so Kowalczuk. "Die Revolution konnte auch deshalb siegen, weil die Instrumente der Macht und vor allem die Institutionen der Macht erodierten. Viele Menschen innerhalb des Partei- und Staatsapparates wollten die DDR nicht mehr so haben, wie sie sich generierte, wie man sie alltäglich erlebte und wie sie zerfiel."
Kowalczuk dekonstruiert Heldenbild der friedlichen Revolutionäre
Als einer der führenden Historiker der ostdeutschen Geschichte schaut Kowalczuk heute kritisch auf das, was vor 1989/90 geschah und dekonstruiert genussvoll das Heldenbild von den friedlichen Revolutionären im Osten. "Diese Rede, die man ja auch dieser Tage immer wieder hört von den Ostdeutschen, die die Revolution gemacht haben, ist ein großer Mythos, ein Märchen", findet Kowalczuk. "Was aber sehr viel aussagt nicht nur über die Redner*innen, sondern auch diejenigen, die da gemeint sind, die das zu so einer Art Selbstbild von sich erklärt haben. Und deshalb glauben, sie sind besonders berufen oder sensibel, bestimmte politische Entwicklungen zu antizipieren."
Der größere Teil der DDR-Bevölkerung, der sich heute der friedlichen Revolution rühmt und daraus eine Grundskepsis gegen jede Art von Obrigkeit ableitet, schreibt Kowalczuk, sei 1989/90 erst auf den Zug Richtung Freiheit aufgesprungen, als das Ende der DDR längst besiegelt war. "Was wir 1989/90 erlebten, war, dass die große Mehrheit der Menschen die DDR nicht mehr haben wollte", erklärt der Historiker. "Sie wollten weg aus der DDR. Aber das war nicht gleichbedeutend damit, dass sie ankommen wollten in der Bundesrepublik Deutschland, dass sie die Verhältnisse genauso haben wollten wie sie dort waren."
Einführung der D-Mark: "Ganz viel ist entwertet worden"
Die D-Mark kam. Schneller als erwartet. Schon im Juli 1990, kein dreiviertel Jahr nach dem Mauerfall. Aber sie kam ganz anders als von den meisten erhofft, beschreibt Kowalczuk: "Mit der Einführung der D-Mark im Osten wurde nun tatsächlich alles anders. Die D-Mark ist eben nicht eingeführt worden, indem auf den Marktplätzen das Geld ausgekippt wurde, sondern natürlich musste eine der wichtigsten Währungen der Welt eben auch institutionell, rechtlich abgesichert sein. Und das hat die gesamte DDR-Gesellschaft praktisch auf den Kopf gestellt. Ganz viel ist entwertet worden: die Kultur des Zusammenlebens, die Kultur des Miteinanderumgehens, die Kultur des Arbeitslebens. Alles veränderte sich - das war für viele ein Schock."
Laut Kowalczuk schlug die Desillusionierung dann in Wut um, die Parteien wie die AfD oder das BSW zu nutzen wüssten: "Aus diesen Enttäuschungen baute sich witzigerweise in dem Moment, als ein Großteil der Gesellschaft sozial angekommen war Anfang der 2000er-Jahre, allmählich Wut und Frust auf. In so einer Situation ist es für diejenigen, die wütend sind und protestieren wollen, leider sehr hilfreich, wenn man Feindbilder präsentiert bekommt. Wenn sie vor hochkomplexen Fragen stehen, neigen viele Menschen dazu, besonders einfache Antworten anzunehmen."
In seinen Überspitzungen schießt Ilko-Sascha Kowalczuk an vielen Stellen weit über das Ziel hinaus. Seine Antworten auf die Frage "Warum sind die Ostler so?" werden vielen Westlern gefallen. Im Osten dürfte ihm ein Sturm der Entrüstung entgegenschlagen.
Das komplette Gespräch mit Ilko-Sascha Kolwalczuk finden Sie auch in der ARD Audiothek.