"Demokratie und Freiheit sind so bedroht wie seit Jahrzehnten nicht"
Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk ordnet im Interview mit NDR Kultur ein, was die Ergebnisse der Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen für die politische Landschaft und die Kultur in Deutschland bedeuten.
Am Sonntag haben die Menschen in Brandenburg einen neuen Landtag gewählt. Die SPD ist knapp stärkste Partei, aber die AfD hat weiter zugelegt und klettert auf 29,2 Prozent. Das Bündnis Sahra Wagenknecht hat aus dem Stand über 13 Prozent erreicht, während CDU, Grüne, Linke und FDP dramatische Verluste einfahren. Der Vormarsch der populistischen Parteien geht also weiter. "Die Lage ist jetzt schon weitaus dramatischer, als viele es wahrhaben wollen", findet der in Ostberlin aufgewachsene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk.
"Ich gehe davon aus, dass wir über kurz oder lang ein autoritäres Staatssystem auch in Deutschland erleben werden." Das haben Sie am 31. August in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" gesagt. Das war noch vor den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg. Jetzt kennen wir die Ergebnisse dieser Wahlen - bekräftigt das Ihre Befürchtung?
Ilko-Sascha Kowalczuk: Meine Befürchtung ist jedenfalls nicht entkräftet worden. Ich hoffe natürlich, dass ich mich mit dieser Befürchtung grundlegend irre. Deshalb engagiere ich mich auch für Demokratie und Freiheit. Aber die Wahlergebnisse aus Thüringen, Sachsen und Brandenburg ermutigen mich nicht gerade. Denn unterm Strich muss man eines feststellen: In Thüringen ist die AfD, eine faschistische Partei, als stärkste Fraktion in den Landtag gewählt worden, in Sachsen und in Brandenburg gerade so an zweiter Stelle. Wenn man auch noch die anderen hinzuzählt, die aus meiner Perspektive ein autoritäres Staatsgefüge anstreben, wie zum Beispiel das Bündnis von Sahra Wagenknecht, muss man sagen, dass in diesen drei Bundesländern jeweils etwa die Hälfte, teilweise sogar darüber, für eine Politik optiert haben, die sich an staatsautoritären Verhältnissen orientiert und die nicht zufälligerweise eine sehr enge Kooperation mit der Diktatur des Wladimir Putin in Moskau anstrebt.
Warum sind autoritäre Vorstellungen so erfolgreich?
Kowalczuk: Es ist eine einfache Frage, die eine sehr komplexe Antwort verlangt. Weltweit, vor allen Dingen in der westlichen Welt, ist eine große Verunsicherung eingetreten, das sind geradezu eruptive Erschütterungen in einem Teil der Gesellschaft. Das können wir auch in vielen anderen Ländern beobachten. In Ostdeutschland zeigt sich das in aller Regel noch etwas schneller und etwas radikaler aufgrund der doppelten Transformations-Überforderung: der Überforderung aus den 1990er-Jahren und der Überforderung der aktuellen Transformation, der digitalen Revolution und der Globalisierung, die viele Menschen stark verunsichert. In solchen Zeiten neigen manche Menschen dazu, auf komplizierte Herausforderungen mit einfachen Antworten zu reagieren. Die Extremisten der AfD und vom Bündnis Sahra Wagenknecht bieten sehr einfache Lösungen und Möglichkeiten an und haben deshalb großen Erfolg. Mir macht das große Sorge, weil ich glaube, dass Demokratie und Freiheit in unserem Land und in Europa so bedroht sind wie seit Jahrzehnten nicht.
Sie heben auch hervor, dass Emotionen sehr wichtig sind für die Wählenden in den ostdeutschen Bundesländern. Warum sind diese Emotionen für die Politik vielleicht viel wichtiger als nackte Zahlen?
Kowalczuk: Das ist eigentlich schon immer so gewesen, dass Politik mit Emotionen gemacht wird, weil das die Menschen anspricht. Menschen wollen abgeholt werden, sie wollen emotional mitgenommen werden, und Emotionen sind stärker als eiskalte Statistiken. Das kann man in Ostdeutschland sehr gut beobachten: Wenn man sich da landauf, landab bewegt, dann wird man staunen, wie viele Menschen dort eine unglaubliche Wut vor sich her tragen, einen unglaublichen Hass auf alles, was mit Westen zu tun hat, eine große Enttäuschung. Man fragt sich, wo das eigentlich herkommt, und da müssen wir ein bisschen ratlos sein. Denn Ostdeutschland geht es so gut wie noch nie. Das Land sieht herausgeputzt aus, aber es ist nicht nur ein äußerer Schein, sondern die ostdeutschen Bundesländer gehören mittlerweile in ganz Europa zu den wohlhabendsten Regionen. Sie sind sicherlich nicht so wohlhabend wie Bayern oder Baden-Württemberg, aber das ist für viele im Osten der Vergleichsmaßstab. Das werden sie nie erreichen, und da kann man dann immer irgendwie unzufrieden sein. Es gibt eigentlich keinen Anlass für diese Wut und für diese Unzufriedenheit, dass viele Menschen im Osten so tun, als würden sie in einer Diktatur leben, am unteren Ende der sozialen Skala - das ist irrational. Insofern ist das ein Zeichen dafür, wie stark Emotionen Politik, das eigene politische Verhalten beeinflussen. Wobei in Ostdeutschland erschwerend hinzukommt, dass zu dieser Sehnsucht nach autoritären Staatsverhältnissen auch die eigene Passivität eine Rolle spielt. Man erwartet von einem starken Staat, dass er die eigenen Angelegenheiten regelt, statt - was die offene Gesellschaft, Demokratie und Freiheit verlangen - sich um seine Angelegenheiten selbst zu kümmern. Das funktioniert in Ostdeutschland nicht, und zwar sowohl bei den älteren als auch bei den jüngeren Generation. Wir haben es bei der Landtagswahl in Brandenburg gesehen, welch großen Zulauf die AfD hat.
Brandenburg ist eines der wenigen Bundesländer, in dem die Menschen schon ab 16 wählen dürfen. In der Gruppe der 16 bis 24-Jährigen hat die AfD in Brandenburg 32 Prozent der Stimmen erreicht und ist damit mit Abstand die stärkste Kraft in dieser Altersgruppe. Welche Rolle spielen da auch die sozialen Medien?
Kowalczuk: Das ist hinlänglich bekannt, dass insbesondere TikTok, aber auch Instagram da eine zentrale Rolle spielen. Niemand ist dort so stark unterwegs wie die AfD, die das sehr geschickt bespielt. Alle anderen haben das verpennt, kommen da nicht vor, und wenn sie da vorkommen - die SPD oder die CDU -, dann ist das nicht unbedingt zeit- und schon gar nicht jugendgemäß. Da hat die AfD einen großen Vorsprung. Ich weiß auch nicht, wie man den so schnell wieder einholen kann.
Was viele Menschen vielleicht gar nicht so sehr auf dem Schirm haben: In den letzten Wochen hat Woidke, der Ministerpräsident von der SPD, eine enorme Aufholjagd gemacht, jedenfalls bezogen auf die demoskopischen Untersuchungen. Das ist ihm unter anderem geglückt, indem er so tat, als ob er mit der SPD, insbesondere mit der Bundes-SPD, nicht allzu viel zu tun hat. Das finde ich bedenklich. Wir leben in einer Parteien-Demokratie. Dass die SPD in Brandenburg hauchdünn vor der AfD gewonnen hat, hat auch sehr viel damit zu tun, dass in Brandenburg, insbesondere im Speckgürtel von Berlin, sehr viele Zugezogene aus Berlin und aus Westdeutschland leben. Die Wessis haben die Demokratie in Ostdeutschland, in Brandenburg, aber auch in Sachsen und Thüringen, mit gerettet.
Ihre Prognose für die liberale Demokratie sieht aber trotzdem düster aus. Was können wir jetzt tun, um die freiheitlich demokratische Grundordnung gegen die, wie Sie sagen, "Extremisten" zu verteidigen?
Kowalczuk: Wovon ich fest überzeugt bin, auch wenn wir am Rande einer staatspolitischen Krise in den drei Bundesländern stehen: Es dürfen keine Koalitionen mit den Extremisten zustande kommen. Damit meine ich ausdrücklich auch das Bündnis von Sahra Wagenknecht. Um einmal ganz deutlich zu machen, wie absurd die Situation ist: In Brandenburg hat das BSW 40 Mitglieder - das ist mitnichten eine demokratische Partei. Die Menschen haben dort ausschließlich Sahra Wagenknecht gewählt; niemand sonst ist da überhaupt auch nur ansatzweise bekannt. Sie haben also eine Person gewählt, die für ihre Putin-freundliche Politik, für ihre Abkehr vom Westbündnis bekannt ist, die dort aber gar nicht zur Wahl stand. Deswegen muss man auf Minderheitsregierungen ausweichen. Das ist anstrengend, aber das könnte am Ende hilfreicher für Demokratie und Freiheit sein, als sich gewissermaßen auf Bündnisse mit diesen Gruppierungen einzulassen.
Das Andere, was mir sehr am Herzen liegt: Wir brauchen einen stärkeren, konstruktiven Journalismus, der vor allen Dingen viel stärker als bislang über die vielen Ehrenamtler in unserem Land berichtet. Denn ohne diese Ehrenamtler wäre unsere Demokratie am Ende. Immer mehr schmeißen die Flinte ins Korn. Das ist eine Entwicklung, wogegen wir uns alle stemmen müssen.
Was bedeutet das für die Ausrichtung der Kultur, wenn Parteien wie die AfD oder das BSW an die Macht kämen?
Kowalczuk: Für die Kultur wäre eine AfD-Regierung weitaus dramatischer als das BWS. Auch wenn ich glaube, dass BSW und AfD zwei Seiten einer Medaille sind, dann gibt es doch Differenzen, zum Beispiel in der Kulturpolitik oder in der Sozialpolitik. Aber es hat längst begonnen: Es ist nicht so, dass wir jetzt darauf warten müssten, dass die AfD über Sperrminoritäten oder über Regierungsbeteiligungen in einzelnen Ländern an die Macht käme und erst dann sich etwas verändern würde. In Thüringen oder Sachsen sind viele freie Träger, Theater und so weiter, schon längst darauf eingestellt, was passiert, wenn die Faschisten an die Macht kommen. Die Lage ist jetzt schon weitaus dramatischer, als viele es wahrhaben wollen.
Das Gespräch führte Charlotte Oelschlegel.