Pro-Kontra: Kann ein Mann aus der Sicht einer Frau schreiben?
Pro: Perspektivenvielfalt in der Literatur
von Alexander Solloch
Nach allem, was wir wissen, läuft der große österreichische Schriftsteller Michael Köhlmeier durchaus nicht auf Samtpfoten durchs Leben. Trotzdem hat er sich erdreistet, "Matou" zu schreiben. Unmöglich! Ein Roman aus der Perspektive eines Katers, verfasst von einem, der gar kein Kater ist und darum ja gar nicht wissen kann, wie sich das überhaupt anfühlt, ein Kater zu sein - so geht das natürlich nicht. Auch der junge Autor Luca Kieser sollte sich - Buchpreis-Nominierung hin, Buchpreis-Nominierung her - schämen für seine Anmaßung, in seinem Debüt "Weil da war etwas im Wasser" einen riesigen Tintenfisch aus seinem Leben erzählen zu lassen. Nein, nicht nur den einen Tintenfisch, sondern jede seiner Tentakeln - eine achtfache Dreistigkeit.
"Das Alphabet bis S": Navid Kermani schreibt als Frau
Es tut mir ja leid, aber anders als mit den Mitteln der Ironie und Polemik kann ich nicht reagieren auf die Belehrungen an die Adresse Navid Kermanis, er als offenkundiger Mann solle sich nicht anmaßen, eine Frau zur Ich-Erzählerin seines neuen Romans zu machen. Es ist natürlich zum einen witzig, wenn diese Vorhaltung aus den Mündern und Federn derer kommt, die sonst nicht müde werden, die Fluidität geschlechtlicher Identitäten zu würdigen. Wer weiß denn schon tatsächlich, ob Kermani sich am Schreibtisch nicht momentweise mehr als Frau gefühlt hat? Aber zum anderen handelt es sich hierbei um den mittlerweile tausendsten Abklatsch einer Diskussion, die doch schon seit Jahren geführt wird, ohne eine andere Wirkung zu zeitigen als völlige diskursive Ermüdung.
Hier also noch einmal zum Ausschneiden und Aufheben für alle künftigen Debatten dieser Art, die unfehlbar kommen werden: Kunst bedeutet die Anverwandlung aller denkbaren Perspektiven auf der Welt. Das zu bestreiten bedeutet, der Kunst weniger zuzutrauen, als sie kann (alles), und mehr von ihr zu fordern, als sie soll (Erfüllung einer persönlichen Agenda zuzüglich Weltverbesserung - und diese bitte auch nach den Maßgaben meiner persönlichen Agenda).
So viele Perspektiven, wie es Geschöpfe gibt
Diese Selbstverständlichkeiten bilden das Fundament aller Beschäftigung mit Literatur. Literatur ist keinesfalls zuständig für die wahrheitsgetreue Abbildung sozialer Wirklichkeiten - dafür gibt es Sachbücher und die Tageszeitung (beide ebenfalls sehr zu empfehlen). Was die Literatur aber leistet: Sie wirft vollkommen individuelle Blicke auf die Welt und in die Welt; dafür bieten sich so viele Perspektiven an, wie es Geschöpfe gibt. Wer sich in sie vertieft, kann sich mit ihnen identifizieren oder hadern, kann sie für den Moment rauschhafter Lektüre verinnerlichen oder zornig verwerfen, all das ist möglich, ist das nicht herrlich? Was freilich nicht möglich ist: Zu sagen, Literatur "darf" dieses oder jenes nicht.
"Kleine Probleme" und "Drifter": Männliche Erzählperspektiven
Ich warte noch darauf, dass sich jemand beklagt über Nele Pollatscheks neuen Roman "Kleine Probleme" oder Ulrike Sterblichs - ebenfalls buchpreisnominierten - "Drifter": beides Texte von Autorinnen, die sich für eine männliche Erzählperspektive entschieden haben, obwohl sie doch nie selbst zu spüren bekommen haben, wie sich die Krise des Mannes tatsächlich anfühlt. Aber sie sind eben Erzählerinnen, und wer erzählt, darf und kann und will alles ausprobieren. Dabei hilft ihnen eines der präzisesten Werkzeuge, über das Autorinnen und Autoren überhaupt verfügen: ihre Fantasie. Die ist auch im Zeitalter der Autofiktion meines Wissens noch nicht abgeschafft.
Die Kritik ist jedenfalls begeistert von Luca Kiesers Tintenfisch-Frechheit, sie nennt sie "eigenwillig und mutig". Genau darum geht es! Überließe man jetzt den Tintenfischen das Schreiben über Tintenfische, den Fußballerinnen das Schreiben über Fußballerinnen, den Männern das Schreiben über Männer und den Frauen das Schreiben über Frauen, dann schlösse künftig jede Rezension mit den Worten: "Langweilig und fad."
- Teil 1: Kontra: Man(n), das macht doch keine Frau!
- Teil 2: Pro: Perspektivenvielfalt in der Literatur