Eine Collage von Porträts von Alexander Solloch und Nina Englert. © NDR

Pro-Kontra: Kann ein Mann aus der Sicht einer Frau schreiben?

Stand: 15.09.2023 16:42 Uhr

Der Schriftsteller Navid Kermani wagt in seinem neuen Buch einen Perspektivwechsel: In "Das Alphabet bis S" schreibt er sein Leben als Frau auf. Geht das überhaupt? Alexander Solloch und Nina Englert von NDR Kultur sind unterschiedlicher Meinung.

Kontra: Man(n), das macht doch keine Frau!

von Nina Englert 

Ich bin gerade auf dem Weg zu meiner sechswöchigen Workation in Portugal, als ich zum ersten Mal über das Thema dieses Artikels nachdenke. Weil Laptop und Kleidung fast den ganzen Platz im kleinen Rucksack ausfüllen, entscheide ich mich dafür, nur ein einziges Buch mitzunehmen. Von vorherigen Reisen kenne ich die Buch-Tausch-Regale in Hostels, in denen ich dann alten gegen neuen Lesestoff eintauschen will.

Fallbeispiel: "Das Herzenhören" von Jan-Philipp Sendker

Im Zug nach Brügge (ich bin insgesamt fünf Tage mit Bus und Bahn von Hamburg nach Lissabon unterwegs) schlage ich das Buch zum ersten Mal auf. "Das Herzenhören" spielt im südostasiatischen Myanmar, was im Buch - wie bei Veröffentlichung 2002 in Europa noch üblich - Burma genannt wird. Anfangsszene: Die Protagonistin sitzt in einem Teehaus, das sie als "erbärmliche Hütte" beschreibt und wird von allen anderen Gästen angestarrt. Sie ist scheinbar fremd im Land und allein unterwegs - so wie ich. An den Wänden hängt ein Kalender mit jungen Frauen. Ein älterer Mann starrt sie besonders aufdringlich an, kommt zu ihr rüber und beginnt seinen Monolog. Er macht ihr begreiflich, dass er ALLES über sie weiß. Er will mit ihr über die Liebe sprechen. Er sagt ihr immer wieder, wie schön er sie findet.  

Julia Win. Geboren am 28. August 1968 in New York City. Mutter Amerikanerin. Vater Birmane. […] Glauben Sie an die Liebe? Sie lachen. Wie schön Sie sind. Ich meine es ernst. Glauben Sie an die Liebe, Julia? Leseprobe aus "Das Herzenhören"

Klingt wie ein Thriller, ist aber ein kitschiger Liebesroman. Die Protagonistin hört sich alles an, bis der Mann nach einer Ewigkeit (im Buch sind es vier Seiten Monolog) das Teehaus verlässt. Julia sitzt einfach da, ohne sich in ihrem Kopf eine Exit-Strategie zu überlegen. Ohne die Anstalten zu machen, aufzustehen oder zu versuchen, den Mann abzuwimmeln. Warum sitzt sie überhaupt in einer "erbärmlichen Hütte" mit einem Frauenkalender an der Wand, voller starrender Typen in einem ihr fremden Land? Warum hat sie sich da gemütlich einen Tee bestellt? Alles, was ich beim Lesen denke, ist: "Wa?!"  

 Jan-Philipp statt Julia 

Ich lege das Buch auf den ICE-Klapptisch vor mir und hole erstmal meinen Proviant aus der Tasche. Ich denke über das gerade Gelesene nach. Bei meiner letzten längeren Solo-Reise durch Tansania habe ich mich auch in einem Restaurant wie in der Szene beschrieben wiedergefunden: Nur männliche Gäste, männliche Mitarbeitende, Frauenfotos an der Wand, Billard-Tisch, interessierte Blicke, jemand will mich ansprechen. Meine Konsequenz? Tschüssikowski! Da würde sich nicht mal die krasseste allein reisende Frau (die auf dem Motorrad um die Welt reisende Schleswig-Holsteinerin Ann-Kathrin Bendixen) einen Tee bestellen. 

Beim Sinnieren und Snacken fällt mir erst auf, welcher Name da auf dem Buchcover steht: Jan-Philipp Sendker. Ich denke zuerst an den "ZEIT Verbrechen"-Host Andreas Sentker - doch ein Krimi? Als ich mit zimt-zuckrigen Fingern die Suchmaschine meines Vertrauens anschmeiße, ergibt sich ein anderes Bild: Jan-Philipp Sendker ist ein Hamburger Autor ohne bekannten Migrationshintergrund. Für den "Stern" war er früher als Amerika- und Asienkorrespondent unterwegs. Kann sich ein Jan-Philipp Sendker in eine alleinreisende Frau hineinversetzen, die gerade zum ersten Mal das Heimatland ihres Vaters besucht? Ich bezweifle es. Das Innenleben Julias ist auch im weiteren Verlauf des Buches in meinen Augen nicht authentisch beschrieben. Beim Weiterlesen sehe ich ab jetzt vor meinem inneren Auge immer Jan-Philipp statt Julia - das ist mir vorher noch nie passiert. 

Frauen geschrieben von Männern 

In den Sozialen Netzwerken (zum Beispiel auf TikToks Booktok) gibt es schon seit über zwei Jahren einen Video-Trend, in dem Creatorinnen überspitzt nachspielen, wie sich die typische von einem Mann geschriebene Frau verhält. Im Hintergrund läuft der empowernde Song "Glory Box" von Portishead mit den Textzeilen:  

For I've been a temptress too long
Just...
Give me a reason to love you.
Give me a reason to be a woman.
I just wanna be a woman.  aus "Glory Box" von Portishead

​​

"Manic Pixie Dream Girls": Sie existieren nur für ihn 

Die verführerische Holly Golightly (Audrey Hepburn) träumt vom Glück und von Diamanten. © NDR/ARD Degeto
Audrey Hepburn als Holly Golightly: Von der Ikone zum "Manic Pixie Dream Girl".

Was die Frauen in diesen Videos gemein haben: Sie sehen wunderschön aus, sind jung, unbeschwert, energetisch, teilweise etwas tollpatschig und sie wirken ganz unangestrengt sexy. Es ist das Bild des vom US-Filmkritiker Nathan Rabin benannten "Manic Pixie Dream Girls". Eine Frau mit obigen Eigenschaften, die das Leben männlicher Haupt- oder Nebencharaktere wieder spannend macht. Sie existiert nur für ihn. Eine Traumfrau für Männer, von Männern entworfen.

Beispiele für das Manic Pixie Dream Girl in Filmen sind Holly Golightly (Audrey Hepburn) in "Frühstück bei Tiffany", Polly Prince (Jennifer Aniston) in "… und dann kam Polly" oder, das Beispiel, durch das Rabin das Muster erkannte: Claire in "Elizabethtown". Auf solche Frauenfiguren ohne eigenes und authentisches Innenleben in Film und Literatur habe ich persönlich keine Lust mehr.  

Sollten Männer nicht mehr aus Frauensicht schreiben? 

Keine Sorge, liebe Männer! Wenn es nach mir geht, dürft ihr gerne weiterhin aus Frauensicht schreiben. Frauen können gerne aus Männersicht schreiben und von mir aus auch Menschen ohne Migrationsgeschichte aus der Sicht von Menschen mit Migrationsgeschichte. Ich werde diese Bücher nur nicht mehr lesen. Ich will Bücher mit Hauptpersonen lesen, deren beschriebenes Innenleben authentisch ist und in meinen Augen schafft man das nur, wenn man die Gefühle, die Diskriminierung oder die Situation, die man beschreibt, wenigstens in ähnlicher Form durchlebt hat.  

"Das Herzenhören" habe ich in Madrid im Hostel gegen "In Every Mirror She's Black" von Lọlá Ákínmádé Åkerström eingetauscht. Das war genau nach meinem Geschmack. Darin geht es um drei Schwarze Frauen, die es aus unterschiedlichen Gründen nach Schweden verschlagen hat, geschrieben von einer Schwarzen Frau, die es aus verschiedenen Gründen nach Schweden verschlagen hat.  

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Der Vormittag | 11.09.2023 | 12:40 Uhr

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