"Das Alphabet bis S": Navid Kermani schreibt aus der Sicht einer Autorin
In seinem neuen Roman "Das Alphabet bis S" führt Navid Kermani Tagebuch aus einer seltsamen Perspektive: Er schreibt sein Leben als Frau, Schriftstellerin und Orientalistin.
Eine namenlose Ich-Erzählerin: Ihre Eltern stammen wie Navid Kermanis Eltern aus dem Iran, sie ist wie Navid Kermani bekannte Schriftstellerin von Romanen, Sachbüchern und Reden und sie durchlebt ein Jahr vieler Verluste. Der Mann trennt sich von ihr (eine Scheidung hat auch Kermani 2020 durchlebt), die Mutter stirbt, der Sohn hat einen Herzinfarkt. Davon weiß das Netz nichts und tiefer wollen wir nicht recherchieren.
"Autoren, die ungelesen im Regal modern"
Die Erzählerin, erfahren wir gleich zu Beginn, beschließt, ein Tagebuch zu führen.
Das Tagebuch ohne Datum, das ich mir vorgestellt habe, soll nicht um mich gehen, soll mich gar nicht erwähnen. Es soll ausschließlich notieren, was zwei Augen sehen, die zugegebenermaßen nun einmal meine eigenen sind, oder zwei Ohren hören. Leseprobe
Eine Mondfinsternis in der Mitte des Buchs lässt erahnen, dass es sich um das Jahr 2018 handelt, ansonsten sind aktuelle Bezüge weggelassen. Es kommt, einen Monat nach dem Tod der Mutter, zur zweiten Spielregel.
Zum Ende des Trauermonats will ich die Autoren durchgehen, die ungelesen im Regal modern wie Uwe Johnson und Hans Henny Jahnn. Leseprobe
Sie entscheidet sich für Peter Altenberg, den kennt heute kaum noch jemand, und gelangt dann über Attila Bartis für B, Emil Cioran für C, Emily Dickinson, Salvador Espriu, Fukazawa Shichiro zu Julien Green und Hermann Hesse. An bekannten Autoren tauchen später noch Helene Hegemann, Ernst Jünger und Ovid auf. Die Mischung ist wild. Und die Leserin oder "Lesschreiberin", wie sie sich nennt, kommt - nach dem Titel des Romans ist das nicht überraschend - bis zum S.
Navid Kermani: Ein Meister der kleinen Form
Die Handlung selbst füllt, man ahnt es, nur einen Bruchteil der knapp 600 Seiten. Weitaus umfangreicher sind die Buchbetrachtungen, Zitatsammlungen, Exzerpte und Kommentare. Dazu kommen einige sehr schöne Glossen und Miszellen über Intimrasur, Rechnungen in Restaurants, Neue Deutsche Welle, Kunst und Fußball und die assoziative Nähe von Radarkontrollen und dem Jüngsten Gericht. Kermani ist ein Meister der kleinen Form, der er hier durch die formale Dramaturgie des Tagebuchs und des Alphabets eine manchmal etwas strapaziöse Linearität aufgezwungen hat.
"Das Alphabet bis S" ist damit das Gegenstück zu Kermanis großem Roman "Dein Name" - das war die Geschichte eines Helden namens Navid Kermani, der vom Ehekrach bis zur Krebserkrankung literarisch durchlebte, was dem Autor zugestoßen war in den Jahren 2006 bis 2011. Natürlich ist die Änderung des Geschlechts identitätspolitisch provokant.
Kermanis Spiel mit dem Feuer der Öffentlichkeit
Navid Kermani hat im Roman zwei Joker eingebaut: Paul Nizon und Peter Nadas. Beide große, vielleicht würde man sie heute "autofiktionale" Erzähler nennen, beide ziemlich sperrig im Vergleich zu Knausgard oder Annie Ernaux. Aber beide leben in ihren Büchern, weil sie dieses Leben mit Brüchen, mit Peinlichkeit radikal in den Dienst der Literatur stellen.
Vielleicht ist dieses Spiel mit dem Feuer der Öffentlichkeit bei Kermani etwas zu abgesichert. Bei ihm ist immer der Journalist und Wissenschaftler zu spüren, der sein Bild von sich deutlich machen will, vielleicht auch kontrollieren. Jetzt mit dem Wechsel in die weibliche Erzählstimme kommt auch noch eine sprachliche Verfremdungsebene dazu. Flaubert meinte mal: "Ich bin Madame Bovary." Navid Kermani könnte das von seiner Heldin nicht sagen.
"Das Alphabet bis S": Eher Sachbuch als Roman
Nur damit neben der nicht ganz euphorischen Besprechung in diesem Beitrag auch noch eine richtige Empfehlung enthalten ist: Lesen Sie, wenn Sie es denn tun, das Buch bis zum Ende. Jedenfalls steht am Schluss eine Ringelnatz-Interpretation und die ist ein Highlight. Was Kermani an Ringelnatz, an Identitätssuche des Künstlers mit Werk und Leben herausarbeitet, an Aktualität, an Moderne, an menschlicher Verzweiflung und an Hochkomik, ist das ganze Buch wert.
Aus den entlegenen Winkeln meines Bücherregals habe ich jedenfalls, nachdem ich das "Alphabet bis S" gelesen habe, mehrere Bücher befreit - Paul Nizon und Joachim Ringelnatz zum Beispiel, aber auch Helene Hegemann. Das Buch wird vom Verlag als "Roman" kategorisiert - das trifft es nicht. Aber mit vielen Unterstreichungen und Klebezetteln kommt "Das Alphabet bis S" trotzdem ins Regal, zu den Sachbüchern.
Das Alphabet bis S
- Seitenzahl:
- 592 Seiten
- Genre:
- Roman
- Verlag:
- Hanser
- Bestellnummer:
- 978-3-446-27745-8
- Preis:
- 32 €