Wohlstand, Fortschritt, Klima: Andreas Reckwitz über Verluste der Moderne
Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz analysiert den Wandel vom Fortschrittsglauben, der unsere Gesellschaft bisher geprägt hat, zur Krisenstimmung angesichts von Klimawandel und weltweiten Konflikten.
Verluste waren früher Erfahrungen im Privaten. Tod und Trauer, Trennung und Endlichkeit - das sind Phänomene, die die Menschen im familiären Kreis ausgemacht haben. Heute schränken Pandemien das Leben ein, der Klimawandel bedroht Existenzen, die Arbeitswelten verändern sich und viele machen dafür die Politik verantwortlich. Andreas Reckwitz will mit seinem Buch "Verlust - Ein Grundproblem der Moderne" auf diese veränderte Wahrnehmung aufmerksam machen und die Gesellschaft resilienter machen für Krisen.
Herr Reckwitz, was verliert unsere Gesellschaft derzeit?
Andreas Reckwitz: Ich beginne mein Buch mit einem Panorama gegenwärtiger Verlust-Phänomene. Wenn man sich das genauer anschaut, ist das wirklich sehr breit. Es geht hier nicht nur um Deutschland, um Europa, um den Westen, es geht auch um die globale Gesellschaft. Ein Verlust-Phänomen sind natürlich die Folgen des Klimawandels, die Extremwetter, der Verlust von Lebensräumen, von Agrarfläche, natürlich auch Krankheiten und Todesfälle, die damit verbunden sind.
Ein zweiter großer Komplex ist das, was man in der Soziologie unter dem Stichwort der Modernisierungsverlierer und -verliererinnen abhandelt. Wir haben in vielen Gegenden, auch in den westlichen Ländern, ein Erlebnis von sozialen Statusverlusten, Stichwort Industrialisierung, vom Mittleren Westen der USA bis in die ländlichen Regionen in Frankreich - da hat es zum Beispiel auch über die Gelbwesten-Bewegung massive verlustorientierte politische Bewegungen gegeben.
Aber wir haben auch Verlust-Phänomene in ganz anderen Bereichen: Wenn wir zum Beispiel die Diskussion um die Beutekunst in Europa nehmen, da geht es um Verluste der Vergangenheit, um gestohlene Kunstwerke, die Benin-Bronzen beispielsweise, und darum, dass man jetzt Restitution für die Verluste der Vergangenheit einfordert. Auch Verluste der Vergangenheit werden also in der Gegenwart sichtbar. Die große Mehrheit der Menschen in den westlichen Ländern sagt schon seit Jahren, dass sie nicht mehr an eine positive Zukunft für die Gesellschaft glauben. Wir haben also auch Verluste und Fortschrittserwartungen auf die Zukunft bezogen.
Sie schreiben auch, wir sind Verlust-sensibel geworden. Verlust kannte man früher eher von Trauer, Tod, Beziehung - also aus dem Reich der Psychologie. Das Paradoxe ist, dass viele Menschen das Gefühl haben, sie verlieren etwas, obwohl sie auf der anderen Seite sagen, dass es ihnen materiell gut geht. Es scheint also ein vorweggenommenes Verlustgefühl zu sein.
Reckwitz: Genau. Man sieht, dass Verluste eine ziemlich komplexe Angelegenheit sind. Verlust ist ja ein Alltagsbegriff, und wir meinen zu wissen, was Verluste sind, aber das ist eigentlich gar nicht so. Es sind zwei Elemente, die da wichtig sind. Verluste werden nicht nur erfahren, sondern man erwartet sie auch in der Zukunft. Das erscheint mir als eine wichtige Veränderung. Natürlich wurden immer schon Verluste erfahren, und sie werden auch jetzt erfahren, zum Beispiel Statusverluste. Aber was mittlerweile mindestens genauso wichtig ist, sind die Verlust-Antizipationen: Man erwartet Verluste in der Zukunft. Es geht einem jetzt noch gut, aber man erwartet, dass es kommenden Generationen möglicherweise schlechter gehen wird.
Der zweite Aspekt ist die Verlust-Sensibilisierung. Verluste liegen nie objektiv vor, sondern die Dinge verschwinden. Aber wie sie wahrgenommen werden, wie sie interpretiert werden von den Individuen, ist eine offene Frage. Wann wird etwas, was verschwindet, auch wirklich als Verlust betrauert? Wann ist man sensibel für einen Verlust? Diese Sensibilität für Verluste hat in der Gegenwart zugenommen, was auch damit im Zusammenhang steht, dass die Gegenwart emotional sensibler ist - und Verluste hängen immer mit Emotionen zusammen. Ein ganzes Netzwerk von Emotionen hängt an den Verlusten dran, und in dem Moment, in dem wir in einer stärker emotional sensiblen Gesellschaft leben, werden Verlusterfahrungen oder auch Verlusterwartungen stärker empfunden.
Sie sagen, die Populisten profitieren von den Verlusterfahrungen der Menschen. Es sind eigentlich Verlust-Parteien oder -Strömungen, die dieses negative Gefühl - alles war mal besser; ich habe mir etwas Besseres vorgestellt in meinem Leben; in Zukunft wird es nicht besser - benutzen, um Politik zu machen. Verkehrt das nicht Politik ins Gegenteil? Soll Politik nicht eigentlich auf etwas hinweisen, was besser wird?
Reckwitz: Klassischerweise ist die moderne Politik hier fortschrittsorientiert. Auch das gesamte politische Spektrum war, jedenfalls bis vor kurzem, so orientiert, zu versprechen, dass es den Menschen in der Zukunft einmal besser werden gehen wird. Dieses Versprechen ist brüchig geworden und hat an Glaubwürdigkeit verloren. Insofern ist es kein Wunder, dass die populistischen Parteien so einen Aufschwung erleben. Populismus ist in den Sozialwissenschaften genauso wie in der Öffentlichkeit mittlerweile ein ganz großes Thema, die Frage, wie man den Populismus erklären kann.
Ich denke, dass man den Populismus, vor allen Dingen den rechten Populismus, nur verstehen kann, wenn man ihn im Kern als eine Verlust-orientierte politische Bewegung sieht. Da gibt es verschiedene Dimensionen, die eine Rolle spielen. Zum einen antworten die populistischen Bewegungen und Parteien auf schon bestehende Verlusterfahrungen in bestimmten sozialen Gruppen. Das sind zum Beispiel die Industrialisierungsverlierer in den USA, die am Ende Trump gewählt haben, oder die Verlierer im ländlichen Raum in Frankreich, die die französische Rassemblement National gewählt haben. Dort gibt es schon Verlusterfahrungen, zum Beispiel, dass der ländliche Raum sich entleert, dass die Infrastruktur sich dort abschwächt oder dass bestimmte, gut bezahlte Industriejobs verschwunden sind, dass man auch seinen Stolz als Arbeiter auf diese Art und Weise verloren hat. Es gibt also diese Verlust-Emotionen und -Wahrnehmungen, die lange Zeit in der Öffentlichkeit gar nicht artikuliert oder thematisiert wurden, eher im Verborgenen. In Ostdeutschland auch: die Wendeverlierer.
Nun greifen aber die populistischen Parteien diese Verlusterfahrungen auf, und die werden durch den Populismus zugespitzt. Sie werden häufig auch in ein Narrativ von Opfern und Tätern gepackt. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass es nicht nur darum geht, die Verluste zu artikulieren, sondern auch zu suggerieren, dass es Täter gibt, Verantwortliche, Gewinner, diejenigen, die davon profitieren, dass ihr verliert. In dem Zusammenhang werden im Rahmen des Populismus letztlich vergangenheitsorientierte Utopien gezimmert, die Vorstellung, dass die Vergangenheit besser war und dass man diese wieder zurückgewinnen will, Stichwort: Make America great again, take back control. Also immer dieses zurück zu einem Zustand, der vorher schon mal da war. Populismus setzt auf Emotionen. Er ist also eine Affekt-Politik, und es ist häufig eine Politik der Rache, eine Rache der Verlierer an den Gewinnern.
Das Gespräch führte Verena Gonsch. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.