Soziologe Reckwitz: "Die Moderne hat ein Problem mit Verlusten"
Der Soziologe Andreas Reckwitz wurde über die Grenzen seines Faches hinaus bekannt mit Analysen und Theorien dazu, in welche Richtung sich moderne westliche Gesellschaften entwickeln. In seinem neuen Buch "Verlust" beschäftigt er sich mit der Krise des Fortschrittsglaubens.
Seit es Menschen gibt, müssen sie damit klarkommen, dass etwas verschwindet. In seinem neuen Buch "Verlust" interessiert sich der Soziologe Andreas Reckwitz aber für die modernen Varianten solcher Erfahrungen. "Es gibt eine ganze Reihe von Phänomenen in der Gegenwartsgesellschaft, in denen Verlusterfahrungen eine Rolle spielen, die auf den ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben, aber dann doch auf den zweiten Blick schon", erklärt Autor Reckwitz. "Zunächst einmal sind ein erster Komplex die Verluste, die mit dem Klimawandel zusammenhängen. Das sind ja Verluste, die im Moment schon erlebt werden in manchen Weltgegenden, etwa durch Extremwetter. Das ist ein Komplex."
Verluste überall
Andere Beispiele sind wirtschaftlicher Wandel und Abstiegsängste. Oder auch öffentlich thematisierte Wunden ehemaliger Kolonien, die sich in den Debatten über Beutekunst zeigen. Verluste also überall. Das ist die eine Seite. Die andere ist das Fortschrittsprogramm der westlichen Moderne.
Der Fortschrittsglaube ist ganz ungewöhnlich und grandios einfach: Er besagt, dass die Zukunft für die Gesellschaft und für das Individuum besser sein wird als die Gegenwart, so wie die Gegenwart schon besser ist als die Vergangenheit. Leseprobe
Fortschrittsglaube meint Verbesserung
In beeindruckender Klarheit führt Reckwitz das Versprechen der Moderne aus. Es besteht in Freiheit und Überfluss - sei es in der Wirtschaft, der Politik oder in der Lebensgestaltung der Menschen allgemein. Zugleich verschwinden ganze Berufe, Landschaften oder Traditionen. Aber das sei eigentlich nicht einkalkuliert.
Die moderne Gesellschaft hat eben ein ganz besonderes Verhältnis zum Verlust. Sie hat ein Problem mit den Verlusten, und das hat sie eben durch ihre Orientierung am Fortschritt. Und im Rahmen dieser Fortschrittsorientierung müssen Verluste natürlich eine abgrundtiefe Enttäuschung markieren. Denn in Verlusten erlebt man ja eine Verschlechterung.
Die Idee der Resilienz
Die Verluste eskalierten in der "Spätmoderne". So nennt der Soziologe den Epochenabschnitt, in dem wir uns heute befinden. Eine Reaktion auf die zunehmenden Verlusterfahrungen ist die Idee der Resilienz, also: der Widerstandskraft. Mit der Grundannahme: Es wird Verluste geben. Dabei belässt es Reckwitz aber nicht. Er schreibt:
Zugleich geht die Idee der Resilienz davon aus, dass man auf das Unvermeidliche in einer Weise vorbereitet sein sollte, dass "trotzdem" ein einigermaßen gedeihliches individuelles oder kollektives Leben möglich ist. Kurzum: Man kann in der Resilienz ein skeptisches, umgeformtes Fortschrittsprogramm erkennen. Leseprobe
Augenöffnend und spannend geschrieben
Auf eine solche Neufassung des Fortschritts läuft das Buch hinaus. Angesichts der harten Verlustkonflikte hält es der 54-Jährige für vernünftig, die Moderne, wie er es formuliert, zu "reparieren": "Ich glaube fast, dass uns nichts anderes übrigbleibt. Wenn die moderne Gesellschaft und wenn wir alle in der Moderne besser oder klüger mit Verlusten umgehen können, wäre das selber ein Fortschritt. Und insofern wäre es begrüßenswert, wenn das gelingen würde.
Was Reckwitz beschreibt, ist an sich nicht neu. Aber wie er es zu einer Gesellschaftstheorie zusammensetzt, ist augenöffnend. "Verlust" liest sich bei allen Fachausdrücken, die der Sozialwissenschaftler verwendet, spannend und lebendig. Viele dürften ihre eigenen tagtäglichen Lebenserfahrungen in diesem Buch wiedererkennen.
Verlust. Ein Grundproblem der Moderne
- Seitenzahl:
- 463 Seiten
- Genre:
- Sachbuch
- Verlag:
- Suhrkamp
- Veröffentlichungsdatum:
- 14.10.2024
- Bestellnummer:
- 978-3-518-58822-2
- Preis:
- 32 Euro €